10 Fragen und Antworten zur Anpassung der internationalen Gesundheitsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation
Die Covid-19-Pandemie war für Menschen weltweit belastend. Viele sind froh, dass diese schwierige Zeit vorbei ist. Doch die Folgen sind nach wie vor spürbar. Einerseits führte die Pandemie zu bleibenden Krankheiten und gar Tod. Andererseits werden noch immer Diskussionen darüber geführt, ob die Pandemiebewältigung von Kirchen und Staat angemessen war.[1] Auch im Netzwerk der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA haben kontroverse Ansichten zum Umgang mit dieser Ausnahmesituation zu Zerwürfnissen geführt.[2]. Mit einer politischen Vernehmlassung wird nun die Diskussion über den Umgang mit Pandemien wieder angefacht. Nötig wurde diese erneute Auseinandersetzung, weil die Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an ihrer Weltgesundheitsversammlung (WHA) vom 1. Juni 2024 Anpassungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften, kurz: IGV (2005), im Konsens verabschiedet haben. Diese Anpassungen, mit denen die Kooperation in einer künftigen Pandemie geregelt wird, gelten auch für die Schweiz. Der Bundesrat hat sich entschieden, mit einer Vernehmlassung die Meinungen und Haltungen von Parteien, Verbänden und Organisationen einzuholen. Zudem hat die EDU kürzlich eine Petition lanciert, in der sie den Austritt der Schweiz aus der WHO fordert.[3]
Die Schweizerische Evangelische Allianz will mit den folgenden 10 Fragen und 10 Antworten einen Beitrag zur Orientierung und Übersicht leisten. Sie tut dies aus einer Perspektive, die unter anderem dem Dienst am Menschen, dem Schutz der persönlichen Würde aller Menschen, der Achtsamkeit auf Gerechtigkeit, dem Schutz der Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der weltweiten Gemeinschaft der Menschen verpflichtet ist. Die SEA ist sich bewusst, dass in vielen politischen Fragen ein Ermessensspielraum besteht.[4]
[1] So fordert die EDU Schweiz beispielsweise die Einsetzung einer staatlich unabhängigen Expertengruppe, welche sämtliche staatlichen Entscheide und Massnahmen während der Covid-19-Pandemie lückenlos aufarbeitet.
[2] https://www.each.ch/medienmitteilungen/kirchen-kamen-nicht-unbeschadet-durch-die-pandemie/
[3] https://www.edu-schweiz.ch/aktuelles/neuigkeiten/die-schweiz-soll-aus-der-who-austreten/
[4] Vgl. dazu die SEA-Stellungnahme «Politik aus evangelischer Verantwortung» (2011). Online abrufbar unter: https://www.each.ch/stellungnahme/politik-aus-evangelischer-verantwortung/
Frage 1: Was für Ziele verfolgt die WHO mit der Anpassung der IGV?
Der Bundesrat fasst die Absicht der WHO wie folgt zusammen: Die Covid-19-Pandemie habe aufgezeigt, dass die internationalen Absprachen nicht immer gut funktionierten. Dank besserer zwischenstaatlicher Zusammenarbeit soll die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten künftig effektiver verhütet und bekämpft werden, ohne den Personen- und Güterverkehr unnötig einzuschränken.[1] Die SEA schätzt es, dass mit den IGV die internationale Kooperation gestärkt wird, ohne die nationale Souveränität zu untergraben. Insbesondere unterstützt die SEA die IGV, weil eine verstärkte Kooperation besonders den benachteiligten Ländern des globalen Südens zugutekommt.
Es ist zudem anzumerken, dass die IGV kein neues Regelwerk sind. Es gibt sie schon länger und die Schweiz trägt diese Verordnungen als Gründungsmitglied der WHO von Beginn weg mit. Die Reform will lediglich auf die aktuellen Herausforderungen reagieren. Während der Covid-19-Pandemie haben schlechte Kommunikation, mangelnde internationale Solidarität und die langsame Reaktion der WHO sowie die Auswirkungen von Fehlinformationen viele Leben gekostet. Die Änderungen sind ein wichtiger Schritt, um diese Probleme vor der unvermeidlichen nächsten Pandemie anzugehen.
Der Reformprozess war partizipativ und offen gestaltet. Die beteiligten Staaten konnten ihre Fragen und Bedenken einbringen und die Diskussion war durchaus kontrovers, wie verschiedene Anpassungen zeigen. Schliesslich haben alle WHO-Mitgliedstaaten – darunter auch die Schweiz – im Konsens zugestimmt. Konsens bedeutet, dass die IGV dem kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Staaten entsprechen. Daher ist es nicht überraschend, wenn der Bundesrat feststellt, dass « die Anpassungen im Allgemeinen von geringer Tragweite [sind].» (Erläuternder Bericht, S. 11)
Die IGV fordern zudem, dass eine nationale Anlaufstelle als IGV-Behörde bezeichnet wird. Diese soll eine koordinative Verantwortung gegenüber der WHO übernehmen. Laut Bundesrat wird diese Rolle in der Schweiz dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) übertragen, ohne dass dabei neue Strukturen oder Kompetenzen nötig wären. Das BAG ist in der Schweiz jetzt schon zuständig für die Bearbeitung von Meldungen sowie für notwendige Massnahmen bei übertragbaren Krankheiten.
[1] Vgl. dazu das BAG: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/internationale-beziehungen/multilaterale-zusammenarbeit/organisation-mondiale-sante/reglement-sanitaire-international.html oder direkt die WHO: https://www.who.int/europe/health-topics/international-health-regulations#tab=tab_1
Frage 2: Kann die Schweiz (das Volk) bei den geplanten Anpassungen überhaupt mitreden?
Die Schweiz hat als Gründungsmitglied die Entwicklung der WHO massgeblich mitgeprägt. Auch an den Diskussionen und Verhandlungen zu den Anpassungen der IGV hat sich die Schweiz via ihre Botschafterin Nora Kronig (Vizedirektorin BAG) aktiv beteiligt und ihre Interessen gezielt eingebracht.[1]
Es gab während den Beratungen Bestrebungen, die Empfehlungen des WHO-Generaldirektors für die Bekämpfung einer Gesundheitskrise künftig für verbindlich zu erklären. Die Schweiz hat sich gegen diese Vorschrift ausgesprochen, da sie einen Eingriff in die nationale Souveränität dargestellt und eine eigenständige Krisenpolitik der Länder behindert hätte. So darf die WHO auch künftig nur Empfehlungen aussprechen.[2]
Aufgrund des grossen öffentlichen Interesses hat sich der Bundesrat entschlossen, bis am 27. Februar 2025 eine Vernehmlassung durchzuführen. Dies, obwohl in der Schweiz keine Gesetzesänderungen nötig sind, die eine Vernehmlassung zwingend erfordern würden. Damit steht es nun allen offen, sich in die Diskussion einzubringen.
[2] Vgl. dazu den Bericht in der NZZ vom 12.11.2024: https://www.nzz.ch/schweiz/die-who-baut-ihre-macht-aus-dagegen-regt-sich-kritik-ld.1856902
Frage 3: Kann die WHO in der Schweiz künftig eine Impfpflicht anordnen?
Am angepassten Regelwerk wird unter anderem kritisiert, dass damit einer Impfpflicht sowie einem internationalen Impfzertifikat Tür und Tor geöffnet werden. In den Anpassungen des Regelwerkes gibt es für diese Vorwürfe jedoch keine Grundlage.
Das Bundesamt für Gesundheit schreibt dazu: «Die WHO kann schon heute, wie sie dies in der Covid-19-Pandemie getan hat, Empfehlungen an ihre Mitgliedstaaten aussprechen, auch zu Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Diese sind jedoch nicht rechtsverbindlich».[1]
[1] Vgl. dazu das BAG: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/internationale-beziehungen/multilaterale-zusammenarbeit/organisation-mondiale-sante/reglement-sanitaire-international.html#accordion1734422349666
Frage 4: Kann die Schweiz die Anpassung der IGV überhaupt (noch) ablehnen?
Ist die Schweiz als Mitglied der WHO nicht sowieso zur Übernahme der Verordnung verpflichtet? Schliesslich gelten die Anpassungen der IGV für alle Vertragsstaaten. Zudem wurden die Anpassungen am 19. September 2024 durch die Vertragsstaaten bereits offiziell notifiziert.
Das BAG schreibt, dass die Annahme der Anpassungen durch die WHA die Schweiz noch nicht daran binde.[1] Gemäss den Artikeln 59 ff. der IGV kann die Schweiz ihre Ablehnung dieser Anpassungen oder spezifische Vorbehalte dazu anmelden («Opt-out System»). Die Frist, um eine allfällige Ablehnung oder Vorbehalte dagegen zu äussern, läuft bis zum 19. Juli 2025.
Wenn die Schweiz sich entscheidet, die Verordnung abzulehnen, würden Teile oder die ganze Verordnung hierzulande nicht in Kraft treten. Wenn die Schweiz Vorbehalte einbringt, müssen diese gemäss Artikel 62 IGV durch die WHO akzeptiert werden. Ansonsten treten die betreffenden Teile der Verordnung in der Schweiz nicht in Kraft.
[1] Vgl. dazu das BAG: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/internationale-beziehungen/multilaterale-zusammenarbeit/organisation-mondiale-sante/reglement-sanitaire-international.html
Frage 5: Hat die Schweiz während der nächsten Pandemie überhaupt noch etwas zu sagen?
Werden nicht automatisch die Rechte eines souveränen Staates wie der Schweiz untergraben, wenn eine supranationale Behörde wie die WHO gestärkt wird? Diese Kritik ist in der Schweiz in unterschiedlichem Kontext zu vernehmen. Es ist vorauszuschicken, dass das Schweizer Epidemiengesetz die IGV bereits jetzt berücksichtigt, insbesondere wenn es um die Ausrufung einer «gesundheitlichen Notlage» geht (vgl. insbesondere Art. 80, Abs. 3 EpG).
Der oben genannten Befürchtung entgegnet das BAG wie folgt: «Die Schweiz wird auch in Zukunft souverän über die eigene Gesundheitspolitik sowie über allfällige Massnahmen im Falle einer ‹gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite (PHEIC)› sowie im Pandemiefall entscheiden. […]. Es ist dabei wichtig festzuhalten, dass es den einzelnen Ländern wie der Schweiz überlassen ist, wie sie diese Kapazitäten in ihrem nationalen Kontext konkret umsetzen.»[1]
Die Schweiz hat sich bisher im Umgang mit internationalen Empfehlungen meist als eigenständig erwiesen. Empfehlungen sind daher nicht mehr und nicht weniger: Vorschläge zur internationalen Koordination.
[1] Vgl. Link zum BAG unter Fussnote 7. Mehr dazu in der Antwort des Bundesrats auf die Frage des Nationalrats Wyssmann Rémy: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20247966
Frage 6: Machen die IGV kritische Stimmen mundtot?
Mit den IGV verpflichten sich die Staaten, gegen «falsche» oder «irreführende» Informationen in Krisenlagen vorzugehen. Die NZZ erkennt in dieser «Fake News»-Bekämpfung im Rückblick auf die Corona-Zeit eine Problematik. Vermeintlich wissenschaftliche Gewissheiten und staatliche Verlautbarungen haben sich später als falsch herausgestellt.[1]
Gemäss dem Erläuternden Bericht des Bundesrats soll bereits jetzt der Umgang mit Fehl- und Desinformation im Rahmen einer objektiven und wissenschaftlichen Information des Bundes über die Gefahren übertragbarer Krankheiten erfolgen, wie sie in Artikel 9, Absatz 1 des Epidemiengesetzes (EpG) vorgesehen ist. Dies soll in Übereinstimmung und unter Wahrung der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Meinungsäusserungsfreiheit, geschehen.[2]
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass eine Risikokommunikation durch objektive und wissenschaftliche Informationen genügt, um Fehl- und Desinformation zu begegnen und damit das Ziel der Anpassung zu erreichen. Er hat jedoch eine Variante in die Vernehmlassung geschickt, die darin besteht, einen Vorbehalt bezüglich der Erwähnung des Umgangs mit Fehl- und Desinformation in den beantragten Anpassungen zu formulieren. Die SEA begrüsst, dass diese Bedenken aufgenommen wurden.
[1] https://www.nzz.ch/schweiz/die-who-baut-ihre-macht-aus-dagegen-regt-sich-kritik-ld.1856902
[2] Vgl. dazu den Erläuternden Bericht in der Vernehmlassung: https://fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/2024/87/cons_1
Frage 7: Was bedeutet eine Annahme der IGV für Kirchen und christliche Werke?
Es ist nicht ersichtlich, dass sich mit der Annahme der IGV für Kirchen und christliche Werke etwas ändert. Als Christinnen und Christen sind wir der Menschenwürde wie auch der Wahrheit verpflichtet. Die SEA begrüsst Regelungen, welche diese Werte berücksichtigen und schützen, auch wenn es im Einzelfall Abwägungen braucht und verschiedene Perspektiven vorhanden sind.
Die Wahrung der Religions- sowie der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit ist für die SEA besonders wichtig. Diese Werte dürfen auch in einer nächsten Notlage nur nach gründlichem Abwägen angetastet werden. Die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sind in den IGV (2005) festgehalten – dieser Punkt ist auch in den angepassten IGV unverändert (Art. 3, Abs. 1).
Frage 8: Können wir während einer nächsten Pandemie Gottesdienst feiern?
Die Revision der IGV geht nicht auf diese Frage ein. Bereits jetzt wird eine mögliche Einschränkung des öffentlichen Lebens im Schweizer Epidemiegesetz geregelt. Die SEA hält in ihrer Vernehmlassungsantwort fest, dass das gemeinsame Feiern des Gottesdienstes für Christen ein wichtiges Gut darstellt. Mit verschiedenen Massnahmen kann dem Schutz der Gottesdienst-Besucherinnen und -Besucher Rechnung getragen werden, ohne dass ein Verbot nötig ist.
Artikel 15 der Bundesverfassung schützt die Religionsfreiheit. Diese muss auch während einer Pandemie geachtet werden und die Behörden sind verpflichtet, sie einzuhalten. Als zum Beispiel der Kanton Genf 2020 ein Gottesdienstverbot angeordnet hat, wurde diese Massnahmen als unverhältnismässig verurteilt und korrigiert.[1] Solche Rekursmöglichkeiten bestehen auch in Zukunft.
[1] https://www.20min.ch/fr/story/culte-annule-pour-cause-de-covid-la-justice-pas-daccord-905732946298
Frage 9: Kann die WHO eine Pandemie ausrufen?
Ja, die WHO kann wie bisher gemäss den Kriterien einer «gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite», die in den IGV festgehalten sind, eine Pandemie ausrufen. Das BAG ergänzt, dass gemäss dem geltenden Epidemiengesetz die Feststellung einer solchen Notlage durch die WHO nicht automatisch zur Folge hat, dass in der Schweiz eine besondere Lage gilt. Ein Beispiel hierfür ist die Zikavirus-Epidemie 2015-2016, bei der in der Schweiz keine besondere Lage ausgerufen wurde. Für die besondere Lage in der Schweiz braucht es immer eine Beurteilung der hiesigen Gefährdungssituation, die der Bundesrat vornimmt.[1]
Frage 10: Wer überwacht die WHO?
Die Weltgesundheitsversammlung ist das oberste Entscheidungsgremium der WHO. Jedes Jahr im Mai treffen sich die Delegierten der 194 WHO-Mitgliedstaaten in Genf, um die thematische, finanzielle und organisatorische Ausrichtung und die zukünftigen Programme der Organisation zu prüfen und festzulegen. Unter anderem werden dort die Mitglieder des Exekutivrates gewählt. Die Schweiz wurde im Mai 2023 in den WHO-Exekutivrat gewählt und nimmt bis 2026 darin Einsitz.[1] Der Generaldirektor leitet das Sekretariat der WHO.
Finanziert wird die WHO durch Staaten und private Geldgeber (Stiftungen). Der drittgrösste Geldgeber ist nach den USA und Deutschland die Bill & Melinda Gates Foundation.[2] Wie viel Einfluss diese Stiftung in der WHO damit erhält, ist schwer zu beurteilen. Die SEA ruft die Verantwortlichen der WHO, unter anderem auch die Schweizer Vertreterinnen, dazu auf, für mögliche Interessenkonflikte oder ungebührende Einflussnahme sensibel zu sein und sie bei Bedarf offenzulegen.
[1] https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-101175.html
[2] Vgl. dazu die Daten der WHO zu «Who are the top contributors»: https://www.who.int/about/accountability/results/who-results-report-2022-2023/executive-summary
Autor: Andi Bachmann-Roth
Weitere Informationen
Internationale Gesundheitsvorschriften IGV
FAQ des Bundesamts für Gesundheit
Stellungnahme der SEA zur Vernehmlassung «Anpassungen an den Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005)»