Die Reformatoren deuteten ihr Handeln für eine Neuausrichtung der Kirche aus einer kirchengeschichtlichen Perspektive. Was können wir heute aus der Geschichte für die Zukunft der Kirche lernen?
Diese Frage lässt sich nicht ohne Voreingenommenheit beantworten. Geschichtsschreibung im weitesten Sinne stellt keine «nackten Fakten» dar, weil letztere in dieser Unmittelbarkeit uns nicht zugänglich sind. Wir sind selbst Teil der (Kirchen-)Geschichte und können uns aus der eigenen Geschichtlichkeit nicht entheben, um mit «Gottes Auge» ein Geschehen zu beobachten. Um Fakten geht es durchaus, ja! Aber diese Fakten kommen immer «bekleidet» daher. Geschichte lässt sich nicht ungedeutet schreiben. Umso mehr gilt das, wenn man noch das Attribut «Kirche» anfügt. Denn was ist «Kirche»? Diese Frage ist nicht rein empirisch. Der hochtheologische Begriff «Kirche» ist einer Vielfalt von Deutungen ausgesetzt. Was gehört zur «Kirche» und ihrer Geschichte, was nicht? Die Diskussion um den eigentlichen Gegenstand der Kirchengeschichte dauert in der Forschung an.
Warum diese einleitenden Worte? Weil ich mich hier mit einem reformatorischen Ansatz der Frage annähern möchte, was wir aus der Kirchengeschichte für die Zukunft der Kirche lernen können. Schon die Reformatoren haben das Geschehen, das sie selbst in Gang setzten, in einer kirchengeschichtlichen Perspektive gesehen. Etwas überspitzt gesagt, hat sich Huldrych Zwingli (1484-1531) bereits mit unserer Frage auseinandergesetzt. Der Begriff reformatio geht auf die Reformatoren selbst zurück und trägt bereits eine Deutung der Kirchengeschichte für die Neuausrichtung der Kirche in sich.
Keine neue Kirche
Ein sich hartnäckig haltendes Missverständnis besagt, Reformatoren hätten eine neue Kirche gründen wollen, um sie auf der Höhe ihrer Zeit zukunftsfähig zu machen. So dachten weder Zwingli noch die radikaleren Täufer vor 500 Jahren. Hinter diesem Anachronismus liegt eine grosse Ironie. Die Reformatoren waren es gerade, die sich am heftigsten gegen den Vorwurf ihrer romtreuen Widersacher erhoben, sie führten Neuerungen ein.
Die reformatorische Kritik an der römischen Kirche bestand darin, dass in ihr sich durch die Jahrhunderte schleichende Neuerungen durchgesetzt hatten, die im Widerspruch zum Urbild der Kirche nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift standen. Re-formatio verstanden die Reformatoren im etymologischen Sinne als Restauration oder «Re-Formierung» nach der «Ur-form», die sich mit der Zeit «de-formiert» hatte. Sie sahen sich in Kontinuität mit der eigentlichen apostolischen und katholischen (= allgemeinen) Kirche, von der sich Rom immer mehr abgewandt hatte. Der geschichtlich gewordenen und faktisch zur Norm erhobenen römischen Amtskirche setzten sie die Normativität der Heiligen Schrift gegenüber.
Gottgewollter Gottesdienst
Heinrich Bullinger (1504-1575), Zwinglis Nachfolger, identifizierte den Schweizer Reformator gerne mit König Josia: Dieser hatte den Gottesdienst in Jerusalem restauriert bzw. nach dem neu im Tempel vom Hohepriester Hilkija gefundenen Gesetzbuch reformiert.[1] Bullinger hielt Zwingli für «unseren von Gott gesandten Josia»[2]. Analog hatte Zwingli nach der «wiedergefundenen» Bibel den gottgewollten Gottesdienst in Zürich wiederhergestellt.
Bullinger gehörte zu den Reformatoren zweiter Generation. Er war Theologe und (Kirchen-)Geschichtsschreiber in einem. Mehr als andere hat er über die Kirchengeschichte und ihre Relevanz für die Zukunft der Kirche nachgedacht. Akribisch durchforschte Bullinger ältere und neuere Quellen, um einerseits nachzuzeichnen, wie sich die Kirche seit biblischen Zeiten verändert hatte und zu der Kirche geworden war, die es nach der Schrift zu reformieren galt. Andererseits, um aufzuzeigen, wie sich allen menschlichen Veränderungen zum Trotz «der alte Glaube» durch Gottes Wort erhielt und immer wieder zu Reformen führte.
Was übertüncht das Angesicht Christi?
Konservativ waren die Reformatoren auch nicht, sondern sie hinterfragten das Zeitgegebene und Faktische. Gilbert Keith Chesterton hat einmal treffend argumentiert: «Alles Konservative beruht auf der Vorstellung, dass man, wenn man die Dinge sich selbst überlässt, sie so lässt, wie sie sind. Das tut man aber mitnichten. Überlässt man etwas sich selbst, so überlässt man es einem rasanten Wandel. Überlässt man einen weissen Pfosten sich selbst, wird er bald schwarz sein. Möchte man unbedingt, dass er weiss bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heisst man muss beständig für eine Revolution sorgen.»[1] Und man möchte hier ergänzen: eine Revolution oder eine «Reformation». Als Zwingli gegen die geltenden Fastenvorschriften predigte, schrieb er: «Man muss jetzt das edle Angesicht Christi, das von belastender menschlicher Überlieferung übertüncht, entstellt und verschmiert worden ist, wieder reinigen und säubern. Dann wird uns Christus wieder lieb. Wir spüren dann, dass sein Joch sanft ist und seine Lasten leicht.»[2]
Versuchen wir Zwinglis Gedankengang nachzugehen. Stellen Sie sich zum Beispiel sein Standbild vor der Wasserkirche in Zürich vor. Der Zahn der Zeit nagt daran. Durch Wetter, Tiere und Menschen wird es «übertüncht, entstellt und verschmiert». Damit das Standbild immer wieder in frischem Glanz erscheint, braucht es die Arbeit eines Kunstrestaurators. Solange die Zeit vergeht, ist diese Arbeit nie fertig. In diesem Geist entstand in nachreformatorischer Zeit die reformierte Maxime Ecclesia reformata semper reformanda secundum Verbum Dei. Das heisst so viel wie: «Die reformierte Kirche lässt sich immer wieder nach dem Wort Gottes reformieren.» Dem andauernden Zeitwandel ausgesetzt, muss sich die Kirche immer wieder am Wort Gottes messen, um zu ihrer Identität zu finden.
Was lernen wir also aus der Kirchengeschichte für die Zukunft der Kirche? Um nicht in einen naiven Progressivismus oder Konservatismus zu fallen, fordern uns die Reformatoren mit einer doppelten Auslegungsarbeit heraus. Nicht nur die Schrift gilt es immer neu zu lesen und zu befragen, sondern in ihrem Licht unsere Zeit zu lesen und zu fragen: Was übertüncht, entstellt und verschmiert heute das edle Angesicht Christi? So paradox es klingt: Um in die Zukunft zu schreiten, braucht es zunächst diesen Schritt zurück. Zurück in die Zukunft!
[1] vgl. 2 Kö 22-23.
[2] Übersetzt aus: Bullinger, Heinrich: Von warer und falscher Leer. Unveröffentlichte Handschrift, 1527, 92r.
[3] Chesterton, Gilbert Keith: Orthodoxie: Eine Handreichung für die Ungläubigen. Kisslegg 2015, fe-Medienverlag, zweite Auflage, 219.
[4] Zwingli, Huldrych: Die freie Wahl der Speisen. In: Schriften Bd. I, Zürich 1522, TVZ, 70.
Autor: Dr. Pierrick Hildebrand