Die Bibel und Erziehung – da finden sich Hochs und Tiefs. Bereits beim ersten Geschwisterpaar Kain und Abel lief es aus dem Ruder. Auch die «Glaubensväter» glänzen in Bezug auf ihre Kinder nur bedingt: Jakob wird von der Mutter, Esau vom Vater bevorzugt; Jakob vehätschelt Joseph – mit erschreckenden Folgen; David und der Priester Eli haben ihre Söhne nicht im Griff. Es ist tröstlich, dass die Bibel ehrlich berichtet und nicht beschönigt. Gott hat mit diesen Personen trotzdem Geschichte geschrieben.
Liefert die Bibel Antworten auf alle Lebensfragen? Irgendwie schon, aber ihre Weisheit muss immer wieder neu erschlossen werden. Sie sagt zum Beispiel einiges über Gesundheit und Krankheit. Trotzdem nehmen wir dankbar moderne Erkenntnisse der Schulmedizin in Anspruch. Die Bibel sagt einiges über Erziehung. Trotzdem können wir heute viel von den Erkenntnissen der Pädagogik profitieren. Deren Geschichte ist relativ jung. Sie nahm erst ab Mitte des letzten Jahrhunderts richtig Fahrt auf. Anfänglich bahnten sich philosophische Theorien ihre Wege (z.B. antiautoritäre Erziehung, Antipädagogik). Inzwischen hat sich die Pädagogik jedoch zu einer Wissenschaft entwickelt. Sie erforscht, wie psychische Gesundheit mit dem Erziehungsverhalten zusammenhängt. Nicht selten haben deren Ergebnisse ein neues Licht auf biblische Aussagen geworfen.
Bibel und Zeitgeist
Niemand ist «ohne Zeitgeist». Die Bibel ist erstaunlich flexibel bzw. anwendbar in unterschiedlichen Zeitepochen und kulturellen Settings. Selbst in der Bibel finden sich gesellschaftliche Entwicklungen abgebildet. Zum Beispiel wird heute kaum jemand die Bevorzugung der erstgeborenen Söhne aus alten Zeiten zurückwünschen. Die ersten Christen haben sich einerseits entschieden gegen die «Normalität» der Kindstötung aufgelehnt, insbesondere von Mädchen oder Kindern mit Behinderungen. Damit haben sie dem Zeitgeist widerstanden. Andererseits haben sie den Gehorsamszwang als wichtigstes Erziehungsziel unbesehen von den umliegenden Kulturen übernommen. Dies hat man erst in den letzten 50 bis 70 Jahren zu hinterfragen begonnen.
Der Begriff der Zucht ist ein gutes Beispiel, wie der Zeitgeist etwa bei Luther oder Zwingli in die Bibelübersetzung eingeflossen ist: «Und ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn!»[1] Im Griechischen steht für Zucht «paideia», wovon «Pädagogik» abgeleitet ist. «paideia» hat absolut nichts mit Zucht oder Züchtigung zu tun, sondern steht für Erziehung, Bildung, Unterweisung. So präzisiert die neue Zürcher Übersetzung den Begriff mit Erziehung. Befürworter der Körperstrafe haben sich darauf berufen, besonders biblisch zu handeln, sich jedoch in Wirklichkeit dem Zeitgeist der Übersetzer untergeordnet.
Was hingegen die Zeit überdauert hat, ist die Forderung Jesu nach Gewaltverzicht. Einzigartig ist auch Jesu Reaktion, als die Jünger die Mütter anfuhren («epitimao» = anfahren, schelten). Im dümmsten Moment wollten sie ihre Kinder zu Jesus bringen. Er war mit einigen Pharisäern in eine Debatte über Scheidung vertieft. Sofort unterbricht Jesus das Gespräch und fährt seine Jünger an (dasselbe «epitimao»!). Dann ruft Jesus die Mütter zu sich und segnet und umarmt die Kinder.[2] Die fassungslosen Gesichter der Männer hätte man sehen sollen! Damit hob Jesus die Kinder in ihrer Würde und ihrem Wert auf die Augenhöhe der Erwachsenen. Einmal mehr trat Jesus dem damals zutiefst verwurzelten Zeitgeist entgegen.
Die Stellen mit der Rute
«Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht», heisst es in Sprüche, Kapitel 13, Vers 24. Rute steht für «shebet» und bedeutet Rute, Stab, Stecken. Wie ist damit umzugehen? Wichtig ist das Beachten der unterschiedlichen Literaturgattungen. Weisheitsliteratur ist nicht Gesetz. Sonst müsste man Kinder auch zum Honigessen zwingen, so Sprüche, Kapitel 24, Vers 3: «Iss Honig, mein Sohn …» Das kann für kleine Kinder lebensbedrohlich werden. Weisheit beobachtet das Leben darauf hin, was das Leben gelingen lässt. Für die Weisheitsliteratur gilt, wie es Professor Waldemar Janzen beschrieben hat: «Auswahl und Anwendung des Erfahrenen ist nicht mechanisch, ja nicht einmal obligatorisch (wie bei Gesetzen), sondern erfordert immer das eigene Mitbeurteilen und -entscheiden seitens des Einzelnen.»[3] So ist es auch kein Problem, wenn gegenteilige Aussagen in den Sprüchen zu finden sind (z.B. Kapitel 17, Vers 10: «Tadel erschüttert einen Verständigen mehr als hundert Schläge einen Toren.» oder auch Kapitel 26, Verse 4-5). Nur etwa 5 Prozent der Sprüche sind als Aufforderung formuliert. 95 Prozent halten Beobachtungen fest, die zum eigenen Reflektieren einladen. Die Weisheitsbücher des Alten Testaments zielen also nicht auf Gehorsam, sondern auf Lernen durch Einsicht.
In Hebräer, Kapitel 12, Verse 4-11 findet sich, je nach Übersetzung, vier Mal der Begriff der Züchtigung. Auch hier steht er für «paideia», also für Erziehung. In Vers 6 heisst es dazu noch: «Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er geisselt aber jeden Sohn, den er aufnimmt.» Hier steht geisseln für «mastigoo». Das ist die wörtliche Bedeutung. Wie ist damit umzugehen? Wenn berücksichtigt wird, in welchem Zusammenhang diese Aussage steht, ist klar: Hier ist das Thema definitiv nicht Kindererziehung. Als «Söhne» sind die erwachsenen Gläubigen angesprochen und das Thema ist Charakterbildung.
Die Würde der Kinder
Eine übergeordnete Wahrheit, als Bogen über der gesamten Bibel zu finden, steht in Psalm 8, Verse 6b-7: «… du hast ihn (den Menschen) gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füsse.» So sieht der Psalmist die Bestimmung des Menschen. Somit ist bei der Wahl der Erziehungsmittel zu fragen: Wie können diese Ehre und Würde in unseren Kindern möglichst optimal gefördert werden?
Es ist zu vermuten, dass Maria und Josef in der Erziehung von Jesus einiges richtig gemacht haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jesus als Zwölfjähriger mit den führenden Theologen im Gespräch war, lässt nicht auf einen autoritären Erziehungsstil seiner Eltern schliessen. Dies ist allen Kindern zu wünschen!
[1] Epheser, Kapitel 6, Vers 4 (alte Zürcher Übersetzung).
[2] vgl. Matthäus, Kapitel 19, Vers 13-15.
[3] Aus einem persönlichen Schreiben von Prof. Waldemar Janzen, als Antwort auf eine Anfrage zum Thema.
Autor: Martin Schnyder


Martin Schnyder ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder. Er war nach einer theologischen Ausbildung in England 40 Jahre in der Gemeindearbeit tätig und hat sich unter anderem in Biblisch-Therapeutischer Seelsorge weitergebildet.