Die Gemeinschaft aller Christus-Gläubigen, das universale Volk Gottes, die lokale Versammlung, der Wohnort Gottes in dieser Welt und nicht zuletzt ein Wunder – all das ist Kirche. Ihr ist eine grossartige Zukunft verheissen, das gibt Hoffnung für die Gegenwart.
Wunder
Die Kirche ist ein Wunder, über das man nur staunen kann. Dieses Wunder macht sprachlos – denn keine Definition kann es genau erfassen. Und es macht sprachschöpferisch – es braucht immer wieder neue Worte, um es zu umschreiben.
Gottes Werk
Die Kirche ist – so sagt es Martin Luther – eine «Schöpfung des Wortes Gottes». Jesus Christus als ihr Eigentümer und Bauherr sagt: «Ich werde meine Gemeinde (ekklesia) bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.»[1] Die Gemeinde ist kein menschliches Werk. Deshalb können Menschen sie nicht schaffen und auch nicht vernichten.
Kirche = Gemeinde = Ekklesia
In der Bibel wird der griechische Begriff ekklesia vielfältig gebraucht – für die lokale Versammlung und für das universale Gottesvolk. In Anlehnung daran verwende ich die Begriffe Kirche und Gemeinde austauschbar als Gesamtbegriffe für ekklesia. Ich denke dabei nicht an eine spezifische Kirchenform, sondern ganz allgemein an die Gemeinschaft derer, die an den Herrn Jesus Christus glauben.
Die Gemeinde wird mit vielfältigen Bildern beschrieben: Sie ist das «Volk Gottes»[2], zu dem sich Gott bekennt und das sich zu Gott bekennt. Sie ist «Gottes Tempel»[3], also Wohnort Gottes in dieser Welt. Sie ist der «Leib Christi»[4], in dem vielfältig begabte Glieder miteinander einander ergänzen. Sie ist die «eine Herde des einen Hirten»[5], die auf ihn hört, ihm folgt und von ihm ewiges Leben erhält. Und sie ist «Christi Braut»[6], Ausdruck intimster Beziehung zwischen Jesus und seiner Gemeinde.
Universale Kirche – Partikulare Kirche
Die universale Kirche umfasst das gesamte Gottesvolk aller Zeiten und an allen Orten. Wer durch den Glauben zu Jesus Christus gehört, gehört zu dieser weltweiten Gemeinde aus Heiden und Juden, zu dieser unzählbar grossen Schar aus allen Völkern und Sprachen, die miteinander Gott anbeten.[7]
Die partikulare Kirche ist die konkrete Gestalt der Kirche, wie wir sie erfahren. Diese ist räumlich und zeitlich begrenzt. Das ist die Gemeinde, die sich zum Gottesdienst sammelt, auf Gottes Wort hört, Gott lobt und Abendmahl feiert. Der Gottesdienst ist Höhepunkt und Quelle des kirchlichen und christlichen Lebens, ein Konzentrat dessen, was sich im Alltag entfaltet – lehrend, hörend und betend; gastfreundlich, diakonisch und missionarisch; pädagogisch, politisch und wirtschaftlich.
Erfahrene Kirche – Geglaubte Kirche
Die erfahrene Kirche kann man untersuchen – Struktur, Mitgliederanzahl, Spendenhöhe, Gottesdienstteilnahme und anderes mehr. Auf der Erfahrungsebene ist die Kirche zwiespältig. Es gibt Erfreuliches und Schmerzliches. Gemeinden blühen auf und gehen ein. Es gibt Versöhnung und Spaltung. Manche erleben Liebe, manche Missbrauch in den hässlichsten Formen. Die erfahrbare Kirche hat eine Segens- und eine Schuldgeschichte. Aber das ist nicht alles.
Es gibt Dimensionen der Kirche, die über die Erfahrung hinausreichen. Die geglaubte Kirche ist die Kirche nach Gottes Bestimmung. Im grossen Glaubensbekenntnis (dem «Nicäno-Konstantinopolitanum») heisst es: «Ich glaube … die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.» Diese inneren Wesensmerkmale stehen in Spannung zur Erfahrung:
- Ich glaube, dass die Kirche eine ist, aber ich erfahre eine gespaltene Kirche.
- Die heilige Kirche erweist sich als sündig.
- Geglaubt wird die katholische Kirche[8], diese lässt sich aber in keiner Organisation fassen.
- Ich bekenne, dass die Kirche apostolisch ist – also auf der Apostellehre beruht und an der Sendung der Apostel teilhat – und beobachte, wie die Kirche immer wieder der Versuchung erliegt, vom apostolischen Zeugnis ab- und der Sendung auszuweichen.
An der geglaubten Kirche muss sich die erfahrene Kirche kritisieren und messen lassen. Die Glaubensaussagen sind gleichzeitig Zielwerte, an denen sich die Kirche immer wieder neu orientieren muss.
Spiegel der Herrlichkeit Gottes
Durch die Kirche lässt Gott seine Herrlichkeit in dieser Welt aufleuchten. An ihr sollen die himmlischen Mächte Gottes Weisheit erkennen[9], auf ihr ruht der «Geist der Herrlichkeit»[10]. Die Kirche ist von Gott dazu bestimmt, an seiner eigenen Herrlichkeit teilzuhaben und diese in dieser Welt auf vielfältige Weise widerzuspiegeln. Der Auftrag der Kirche wird in der Kirchenlehre (Ekklesiologie) oft mit vier Begriffen umschrieben:
- In der Leiturgia, dem Gottesdienst, wird Gottes Herrlichkeit gepriesen und gefeiert.[11]
- In der Martyria, dem Zeugnis, wird verkündigt, dass Jesus von den Toten auferstanden ist und dass damit die neue Schöpfung ihren Anfang genommen hat. Dieses lebendige Evangelium strahlt über aller Finsternis und allem Dunklen auf.[12]
- In der Diakonia, dem Dienst, zeigt sich Gottes Herrlichkeit in der menschlichen Barmherzigkeit.[13]
- In der Koinonia, der Gemeinschaft, strahlt die Herrlichkeit auf, an der Jesus seine Nachfolger teilhaben lässt.[14]
Hoffnungsvoll
Alle diese Umschreibungen für das Wunder der Kirche stiften Hoffnung, weil der Kirche eine grossartige Zukunft verheissen ist. Sie ist die Gemeinde der neuen Schöpfung. Gott selbst verspricht, für immer in ihrer Mitte zu wohnen.[15] Mit diesem Bild vor Augen wandert die Kirche Gottes mit Ausdauer, Freude und Hoffnung durch die Zeit auf das vor ihr liegende Ziel zu.
[1] Mt 16,18.
[2] 1 Petr 2,10.
[3] 1 Kor 3,16.
[4] 1 Kor 12,27.
[5] Joh 10,16; 27-28.
[6] 2 Kor 11,2; Offb 19,7.
[7] vgl. Offb 7,9-12.
[8] Katholisch meint hier nicht die römisch-katholische Konfession, sondern heisst «umfassend» – also das, was ich oben als universale Kirche beschrieben habe.
[9] vgl. Eph 3,10.
[10] 1 Petr 4,14.
[11] vgl. Jes 6,3.
[12] vgl. 2 Kor 4,4-5.
[13] vgl. 1 Petr 4,11.
[14] vgl. Joh 17,22.
[15] vgl. Offb 21,3.
Autor: Prof. Dr. Stefan Schweyer