Von Weltverneinung zu Weltgestaltung

Vor 100 Jahren erblickten viele Christen in der Welt ein sinkendes Schiff. Heute möchten viele die Welt verändern und verwenden dafür den Begriff der ganzheitlichen Mission. Wie kam es zu diesem Wandel und was bedeutet «ganzheitlich»?

Im Jahr 1787 gründeten zwölf Männer in einer Druckerei in London ein Komitee zur Abschaffung des Sklavenhandels im Britischen Empire. Das Vorhaben war aussichtslos, die Rechtmässigkeit des Handels wurde von praktisch niemandem infrage gestellt. Das Komitee begann mit einer umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit und William Wilberforce hielt in den folgenden zwei Jahrzehnten im britischen Parlament unzählige Reden, in denen er die Abschaffung des Sklavenhandels forderte. 46 Jahre später, drei Tage vor seinem Tod, erreichte Wilberforce auf dem Sterbebett die Nachricht, dass das britische Parlament die Aufhebung der Sklaverei beschlossen hatte.

Viele erweckte Protestanten, sogenannte «Evangelicals» wie Wilberforce, unterstützten das Komitee. Sie vereinten eine bemerkenswerte theologische Weite auf sich: Sie waren theologisch konservativ, verkündeten das Evangelium und setzten sich für eine bessere Welt ein. In unseren heutigen Begriffen war ihr Verständnis vom Auftrag der Kirche in der Welt und vom einzelnen Christen «ganzheitlich».

Im Übergang zum 20. Jahrhundert kam es zu dem, was die Geschichtswissenschaftler «die grosse Wende» nennen. Der erweckliche Protestantismus verlor nach und nach seine ganzheitliche Ausrichtung. Durch das Aufkommen des amerikanischen Fundamentalismus und pessimistische Endzeitvorstellungen wandten sich viele «Evangelicals» vom Engagement in der Welt ab. Der Evangelist Dwight L. Moody brachte die neue Sicht auf den Punkt, als er sagte: «Die Welt ist ein sinkendes Schiff. Ich bin nicht gerufen, das Schiff zu retten, sondern so viele wie möglich vom Schiff zu holen, bevor es sinkt.»

Die Wende von der Wende
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Wende von der Wende. Die «Evangelicals» in den Vereinigten Staaten und grosse Teile des erwecklichen Protestantismus im deutschen Sprachraum (die als «Evangelikale» oder «Allianzchristen» bezeichnet wurden) wandten sich im Sinn der Gründungsväter wieder der Welt zu.

Ein Meilenstein in diesem Prozess war der Kongress für Weltevangelisation in Lausanne 1974. 4000 Führungspersönlichkeiten aus der ganzen Welt fanden sich zusammen, um über die Aufgabe der Kirche nachzudenken. Prominente Leiter aus Südamerika wie René Padilla forderten, die Kirche müsse nicht nur evangelisieren, sondern auch ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Die Stimmen aus dem Süden, die zahlreich und pointiert waren, wurden gehört. In der Lausanner Verpflichtung, dem Schlussdokument des Kongresses, hielt man fest, dass die wichtigste Aufgabe der Kirche die Verkündigung des Evangeliums sei, gleichzeitig sei es eine christliche Pflicht, sich sozial und politisch zu betätigen (Artikel 5).[1]

Das ganze Evangelium
15 Jahre später trafen sich die erwecklichen Kräfte in Manila ein zweites Mal zu einer grossen Konferenz, um zu besprechen, wie man in Sachen Evangelisation und Weltverantwortung vorangekommen war. An der Konferenz setzte sich der Satz durch: «Wahre Mission muss inkarnatorisch sein.» Damit war gemeint: So wie Jesus sich in seiner Inkarnation (Menschwerdung) zu den Menschen begab und ihnen mit dem Evangelium diente, müssen auch wir uns den Menschen mit ihren Nöten zuwenden und ihnen ganzheitlich mit dem Evangelium dienen.

In dieser Zeit begann man erstmals von «ganzheitlicher Mission» zu sprechen. Obwohl der Begriff umstritten war und im Westen Befürchtungen über eine humanistische Verflachung des Missionsbegriffs aufkamen, setzte er sich durch. Die auf Ganzheitlichkeit fokussierten Kräfte verstanden den Sendungsauftrag der Kirche umfassend. Sie wollten weder ein auf die Verkündigung beschränktes Evangelium in die Welt hinaustragen noch ein auf soziale Belange reduziertes Verständnis vom christlichen Glauben fördern.

Für die Welt, der wir dienen
Im Laufe dieses Prozesses ging der erweckliche Protestantismus einen weiten Weg von dezidierter Weltverneinung zu aktiver Weltgestaltung. Vorläufiger Höhepunkt war 2010 der dritte grosse Kongress nach Lausanne und Manila im südafrikanischen Kapstadt. 4000 Leiter aus der ganzen Welt fanden sich zusammen, um über den Auftrag der Kirche in der Welt nachzudenken. 100’000 weitere Personen schalteten sich über das Internet zu.

Das Ergebnis des Megaevents ist die zweiteilige Kapstadt-Verpflichtung.[2] Im ersten Teil, dem Kapstadt Bekenntnis des Glaubens unter dem Titel «Für den Herrn, den wir lieben», werden die Glaubensgrundlagen im Sinn von Lausanne und Manila bestätigt. Im zweiten Teil, dem Kapstadt Aufruf zum Handeln unter dem Titel «Für die Welt, der wir dienen», wird ausgeführt, wie Christen der Welt ganzheitlich dienen wollen. In Artikel 10 dieses Teils heisst es:

«Wir verpflichten uns zur integralen und dynamischen Ausübung aller Dimensionen von Mission, zu denen Gott seine Gemeinde beruft. Gott ruft uns auf, die Wahrheit der Offenbarung Gottes und das Evangelium seiner rettenden Gnade durch Jesus Christus allen Völkern bekannt zu machen, alle Menschen zu Umkehr, Glauben, Taufe und gehorsamer Nachfolge zu rufen. Gott ruft uns auf, sein Wesen durch barmherzige Fürsorge für die Bedürftigen zu spiegeln sowie die Werte und die Macht des Reiches Gottes deutlich zu machen durch Streben nach Gerechtigkeit, Frieden und in der Fürsorge für Gottes Schöpfung.»

Das Verständnis von Mission in Artikel 10 ist beeindruckend breit, ohne konturlos zu werden. Es ist das bisher klarste Bekenntnis des erwecklichen Protestantismus zur ganzheitlichen Mission. Hinter diesem Bekenntnis steht die Erkenntnis, dass die Welt kein sinkendes Schiff ist, sondern Gottes geliebte Welt.[3] Dass der Kapstadt-Aufruf zum Handeln den Titel «Für die Welt, der wir dienen» trägt, ist 100 Jahre nach dem Satz «die Welt ist ein sinkendes Schiff» bemerkenswert. Es gelang den erwecklichen Kräften, sich aus der fundamentalistischen Enge zu befreien und zurück zu ihren Wurzeln zu finden.

Drei Aufträge
Mit der Jahrtausendwende ist die ganzheitliche Mission auch im erwecklichen Mainstream des deutschen Sprachraums angekommen. In der ganzheitlichen Mission werden drei grosse biblische Aufträge als gleich wichtige Ausdrucksformen der einen Mission der Kirche wahrgenommen: Bebaut und bewahrt die Erde![4] Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst![5] Machet zu Jüngern alle Völker![6] Ganzheitlich zu denken bedeutet, diese Aufträge nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als gleichwertig zu betrachten. Ganzheitlich zu handeln bedeutet, der ganzen Welt das ganze Evangelium in einer Haltung des Dienens zu bringen. Wenn diese Dinge Hand in Hand gehen, ist die Kirche eine glaubwürdige Repräsentation des Königreichs Gottes in der Welt.

Autor: Dr. theol. Roland Hardmeier

[1] vgl. https://www.lausanne.org/de/lausanner-verpflichtung/lausanner-verpflichtung (11.2.2021).
[2] vgl. https://www.lausanne.org/de/kapstadt-verpflichtung/die-kapstadt-verpflichtung (11.2.2021).
[3] vgl. Joh 3,16.
[4] 1 Mose 2,15.
[5] Mk 12,30-31.
[6] Mt 28,19.