Von Disziplinierung zu liebevoller Autorität

Erziehung ist ein prägendes Lebensgebiet: Alle kennen es, alle haben ihre intuitive Erfahrungsmeinung dazu. Reflexion über Grundsätze des Erziehungsgeschehens hilft, objektiveren Boden zu gewinnen.

Über viele Jahrhunderte prägten philosophische und theologische Grundannahmen die Geschichte der Pädagogik. Grosse Persönlichkeiten wie Jan Amos Comenius, August Herrmann Francke, Heinrich Pestalozzi, Maria Montessori und Janusz Korczak kamen in diesen Fragen zu ihrer Zeit entsprechenden Erkenntnissen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts, vor allem aber um die Jahrtausendwende, zeichnete sich eine Schwerpunktverschiebung hin zu einer empirisch belegbaren Erziehungswissenschaft ab. Diese untersucht verschiedene Faktoren auf ihre Lern- und Entwicklungsförderlichkeit des jungen Menschen. Effektive und hilfreiche Grundlagen für Erziehung können somit benannt werden.[1] Dabei sollen immer der Mensch, seine Beziehungen und seine gesunde Entwicklung im Vordergrund stehen und nicht etwa politisches Kalkül.

Identität und verantwortliches Handeln

Durch Sozialisationsprozesse lernt der Mensch, in seiner Kultur gemäss ihren Werten und Normen zu handeln «wie alle andern», also sozial handlungsfähig zu werden. Er lernt aber auch, seine unverwechselbare Identität herauszubilden, also zu sein «wie kein anderer», seine Persönlichkeit zu finden und zu entwickeln.[2] «Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.»[3] Werte und Normen stellen nun den Untergrund dar, auf dem Erziehungsziele, Erziehungsmittel und Erziehungsstile fussen.

Erziehungsstil und optimale Bindungsqualität

Der Mensch ist auf Bindung hin angelegt. Eine sichere Bindung bedeutet entwicklungspsychologisch ein sicherer Boden für weitere Beziehungen, ein «Urvertrauen». Bindung ist in ihrer ersten Funktion die Sicherung des Überlebens. Eltern sorgen für die an sie gebundenen Kinder. Das führt zur Ur-Erfahrung: Jemand meint es gut mit mir – eine Schablone, die nun lebenslang die Erwartungen an zukünftige Beziehungen prägt. Das Gegenteil des Urvertrauens ist das Urmisstrauen. Auch das kann zu einer Schablone werden.[4]

  1. Emotional vernachlässigender Stil: Wohlstandsverwahrlosung kommt in der reichen Schweiz mindestens so häufig vor wie Verwahrlosung wegen Armut. Schädliche Verwöhnung ist hier ebenso wie beim permissiven Stil oft anzutreffen.
  2. Permissiver, antiautoritärer Laissez-faire-Stil: Er verhindert, dass Kinder eine gesunde Frustrationstoleranz entwickeln. Ihre Eltern gehen im Übermass auf ihre Bedürfnisse ein, setzen aber keine Grenzen und verlangen wenig bis keine Einordnung in ein soziales Miteinander. Neuere Strömungen wie AP (Attachment Parenting, bindungsorientierte Erziehung) stehen in der Gefahr, wieder zurück in bereits überwundene historische Fehlentwicklungen von ungesundem Eltern-Kind-Rollentausch und Verwöhnung zu geraten.
  3. Autoritärer Erziehungsstil: Eltern disziplinieren das Kind systematisch und oft rigide, schenken seiner Autonomie wenig Aufmerksamkeit, empfinden das Autonomiestreben des Kindes als Kontrollverlust über das Kind. Sie bezeichnen Trotzen als Rebellion. Es ist wenig Wärme und oft viel Leistungsdruck vorhanden.
  4. Autoritativer Erziehungsstil: Eine autoritative Haltung ist auf liebevolle Autorität ohne Härte gegründet. Dieser Erziehungsstil ist gemäss der aktuellen Forschung der erfolgreichste im Blick auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit von Kindern. Er gewährleistet die besten Voraussetzungen, dass ein Kind sein Leben später selbstständig, vertrauensvoll und gesellschaftlich gut integriert bewältigen wird. Er gilt seit nun bald 50 Jahren als bewährter und erprobter Standard einer Erziehung, die frei von psychischer und physischer Gewaltanwendung ist. Er ist kompatibel mit christlichen Werten und respektiert die Bedürfnisse von Kindern und Eltern.

In das abgebildete Werte- und Handlungsschema lässt sich jedes erzieherische Verhalten, jeder individuell ausgeprägte Erziehungsstil einordnen. Das Bewusstsein für diese konkreten Fragestellungen hilft, Einseitigkeiten zu erkennen, das eigene Erziehungsverhalten zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen.

Als Christinnen und Christen werden wir unsere Grundwerte und Erziehungsziele weniger am hyperindividualistischen Zeitgeist und mehr an unserem biblischen Menschen- und Gottesbild ausrichten. Werte und Tugenden fordern ein authentisches Vorleben: «Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts», sagte einst der deutsche Pädagoge Friedrich Fröbel (1782-1852). Ein autoritativer Erziehungsstil, der von Liebe, Zuversicht und einem ausgewogenen, liebevollen Gottesbild geprägt ist, wird eine gewaltfreie Erziehung ermöglichen, in der Kinder froh, frei und sicher gebunden aufwachsen können.

[1] vgl. Studer, Felix / Studer, Joël: Spielfeld Religionspädagogik, Blauer Faden: (Religions-)Pädagogische Grundlagen. 2022, 12.

[2] vgl. Studer/Studer, 2022, 14.

[3] Studer/Studer, 2022, 17.

[4] vgl. Studer/Studer, 2022, 21.

Autorin: Doris Bürki

Doris Bürki ist verheiratet und Mutter von sechs erwachsenen Kindern. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin, Co-Leiterin der SEA-Arbeitsgemeinschaft Forum Ehe+Familie und Teil von FEG ehe+familie, Präsidentin der Biblisch-Therapeutischen Seelsorge Schweiz und Mitglied des Care-Teams Aargau.