Die Stiftung «Gott hilft» in Zizers setzt sich seit 1916 für gezielte, professionelle Stärkung sozial schwacher oder bedürftiger Einzelpersonen oder ganzer Familien im Verlauf ihres Lebenszyklus ein. Im Jahr 2010 war die Stiftung mit medialen Vorwürfen und auch solchen von ehemaligen Heimkindern konfrontiert. Martin Bässler, Leiter der pädagogischen Angebote und Mitglied der Geschäftsleitung, erzählt im Interview, wie die Stiftung ihre Geschichte aufgearbeitet hat und welche Schlüsse daraus gezogen wurden.
Was waren die Ereignisse, die in der Vergangenheit vorgefallen waren, und wie wurden diese an die Öffentlichkeit gebracht?
Seit ihrer Gründung vor über 100 Jahren setzt sich die Stiftung Gott hilft für Kinder ein, die für kürzere oder längere Zeit nicht zu Hause aufwachsen können. Dieses Thema der «Fremdplatzierung» war, ist und bleibt ein sensibles Thema in unserer Gesellschaft. Im Jahr 2010 wurde ein Übergriff unter Jugendlichen von verschiedenen Medien aufgegriffen. Diese Berichterstattung war für uns als Stiftung belastend. Gleichzeitig wurde der Prozess der Aufarbeitung der Geschichte der Fremdplatzierungen in der Schweiz durch ehemalige Heimkinder und die Politik in Gang gesetzt. Aufgrund der langen Geschichte und Tradition der Stiftung Gott hilft war für uns von Anfang an klar, dass wir Teil dieser Aufarbeitung sein und uns aktiv daran beteiligen wollen.
Wie ging die Stiftung daraufhin konkret vor?
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart erfordert den Mut oder vielleicht auch die Demut, auch auf das zu schauen, was nicht gut gelaufen ist. Konkret haben wir einen externen Untersuchungsbericht in Auftrag gegeben, der die «jüngere» Vergangenheit beleuchtet, bewertet und auch Massnahmen fordert. Zudem haben wir ein Forschungsprojekt bei einer Historikerin in Auftrag gegeben, welche die Geschichte der Stiftung im Kontext der Zeit beurteilte und die Licht- und Schattenseiten der Stiftungsarbeit beleuchtete. Daraus ist das Buch «Niemandskinder» entstanden.
Hat eine Versöhnung zwischen der Stiftung und den Betroffenen stattgefunden?
Ja, Verletzungen und Leid – verursacht durch Menschen und ihr Fehlverhalten – sind in der Stiftungsgeschichte passiert. Menschen wurde Unrecht angetan. Das Thema «Entschuldigung» ist ein zentrales Thema der Vergangenheitsbewältigung. Unser damaliger Gesamtleiter Daniel Zindel entschuldigte sich im Namen der Stiftung offiziell für das geschehene Unrecht und Leid. Aufarbeitung und Versöhnung geschahen und geschehen bis heute aber in persönlichen Begegnungen. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass auch viele beeindruckende Lebensgeschichten in der Stiftung Gott hilft geschrieben wurden, die Segensspuren hinterliessen.
Was hat die Stiftung aus der Vergangenheit gelernt, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden?
Hier eine kurze Antwort zu geben, ist schwierig. In der Arbeit mit Menschen kann es zu schwierigen Situationen und Grenzverletzungen kommen. Es gibt keine Garantie, dass nichts passiert. Aufgrund der Aufarbeitung unserer Geschichte und der permanenten Herausforderung mit schwierigen Situationen ist aus den pädagogischen Angeboten der Stiftung der «Bündner Standard» entstanden. Dies ist ein Instrument zur Prävention und dem Umgang mit Grenzverletzungen.
Wie beurteilen Sie persönlich das Vorgehen der Stiftung im Aufarbeitungsprozess?
Im Prozess der Aufarbeitung hatte ich das Vorrecht, mit sehr wertvollen Personen unterwegs zu sein. Namentlich war Daniel Zindel, der ehemalige Gesamtleiter der Stiftung, mit seiner grossen Bereitschaft hinzuschauen, das Schwierige auszuhalten und auch daraus zu lernen und zu wachsen, für mich sehr prägend. Der Weg mit ihm inspiriert mich bis heute.
Welche Rolle spielt heute der christliche Glaube im Heimalltag und in der Erziehung?
Aus dem Glauben heraus, nicht zum Glauben hin: Das ist zusammengefasst heute unsere Haltung. Der Glaube ist für uns Mitarbeitende eine wichtige Ressource und Kraftquelle. Im Gegensatz zu früher haben wir aber keinen Missionierungsauftrag mehr an unseren Kindern und Jugendlichen. Primär haben wir einen Erziehungs- und Bildungsauftrag an den Kindern und deren Familien. Dieser wird auch durch Leistungsverträge der öffentlichen Hand definiert.
Welchen pädagogischen Ansatz wenden Sie in der Betreuung an?
In unseren pädagogischen Angeboten gibt es nicht den einen pädagogischen Ansatz. In unseren Rahmenkonzepten werden unsere Grundhaltungen und Ansätze ausführlich beschrieben und transparent gemacht. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass es nicht nur einen Ansatz gibt, sondern wir fundierte fachliche Haltungen in unserer pädagogischen Arbeit anwenden, welche durch verschiedene Ansätze begründet werden. In der Stiftung fassen wir dies in unseren pädagogischen Leitlinien zusammen.
Die Vision der Stiftung Gott hilft ist: «Wir wollen das Potenzial von Menschen zur Entfaltung bringen, damit das Leben gelingt.»
Persönlich bin ich der Überzeugung, dass es nicht nur einen Ansatz gibt, sondern wir wenden fundierte fachliche Haltungen in unserer pädagogischen Arbeit anwenden, welche durch verschiedene Ansätze begründet werden. In der Stiftung fassen wir dies in unseren pädagogischen Leitlinien zusammen.
In unseren Pädagogischen Leitlinien zeigen wir auf, welche Grundhaltungen unsere Arbeit prägen. Aufbauend auf den drei Grundfragen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – Wer bin ich (Identität)? Was kann ich (Ressourcen)? Wo gehöre ich hin (Beziehungen)? – geben wir unserer professionellen Arbeit eine fachliche Grundlage und machen die Bedeutung des christlichen Menschenbildes für die praktische Arbeit transparent.
Welche Möglichkeiten haben Ehemalige, wenn sie ihre Geschichte oder ihre Erfahrungen teilen möchten?
Wenn ehemalige Kinder und Jugendliche das Bedürfnis nach einem Gespräch haben, dürfen sie jederzeit vorbeikommen und wir nehmen uns Zeit und sind offen. Interessant ist, dass Ehemalige oft erst viele Jahre später, zum Teil sogar erst nach der Pensionierung, gewisse Fragen zulassen und nochmals über gewisse Sachen reden möchten.
Was empfehlen Sie anderen Organisationen, die ihre Vergangenheit aufarbeiten?
Nicht nur wir als Individuum haben unsere Biografie, auch jede Institution und Organisation hat ihre Geschichte. So wie ich mich entscheiden kann, mich meiner Biografie zu stellen, kann sich auch eine Institution für die Auseinandersetzung mit der institutionellen Biografie entscheiden. Sich auf diesen Weg zu begeben, empfehle ich allen Institutionen. Die Bearbeitung unserer Geschichte hat uns nachhaltig gestärkt und motiviert, uns für Menschen in schwierigen Lebensumständen zu engagieren.
Autorin: Lydia Germann

Das Gespräch führte Lydia Germann. Sie ist Praktikantin Medien und Kommunikation bei der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.