Unterwegs zu einer inklusiven Kirche

Dass Inklusion ein Thema der Theologie und Kirche ist, bedeutet nicht, dass Kirchgemeinden automatisch inklusiv sind. Welche Herausforderungen gibt es auf dem Weg zu einer inklusiveren christlichen Gemeinschaft? Wie kann eine Kirche praktisch so gestaltet werden, dass Menschen mit Behinderung und anderen anspruchsvollen Lebensumständen dazugehören und teilhaben können?

Zu Inklusion und inklusiver Kirche wird heute auch in der Schweiz wissenschaftlich geforscht.[1] Inzwischen kennen wir einige Barrieren beziehungsweise Hindernisse, welche die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und anderen Einzelpersonen und Gruppen erschweren und schlimmstenfalls verhindern. Barrieren gilt es zu beseitigen, Hindernisse müssen überwunden werden.

Barrieren und Hindernisse

Zu den offensichtlichsten Hindernissen einer inklusiven Kirche zählen zum Beispiel architektonische oder technische Probleme wie fehlende Rampen bei Gebäudeeingängen oder Höranlagen. Fehlende Rampen sind nicht nur für Menschen im Rollstuhl ein Hindernis, sondern auch für Kinderwagen oder Menschen mit Rollatoren und dergleichen. Auch soziale Barrieren wie zum Beispiel Vorbehalte und Ängste gegenüber Menschen mit scheinbar unkonventionellen Lebensentwürfen hindern Kirchen daran, inklusiver zu werden. Ganz praktisch fordern die erschwerte oder unmögliche Teilhabe am kirchlichen Alltag und seinen Aktivitäten sowie einseitige theologische Überzeugungen eine inklusivere Gestaltung des kirchlichen Lebens heraus.[2]

Förderfaktoren und Massnahmen

Umgekehrt fördern eine empathische, einfühlsame Gemeindekultur und Atmosphäre, in der viel Offenheit für die Verschiedenheit lebt, dass eine Kirchgemeinde inklusiver wird. Um das zu erreichen, müssen Kirchen und ihre Mitglieder häufig ihre eigene Haltung und theologischen Überzeugungen überdenken und wo nötig überarbeiten. Mut, Vertrauen, Wille, Bereitschaft, Ausdauer und eine gewisse Flexibilität und Kreativität von allen Beteiligten sind weitere wichtige Faktoren, um die vielfältigen Barrieren zu beseitigen und Hindernisse zu überwinden. Menschen, die von Benachteiligung und Ausgrenzung gefährdet sind, müssen ihre Bedürfnisse auch offen mitteilen. Sie sollten wenn möglich nicht stillschweigend erwarten, dass alle merken, was sie brauchen, um zum Beispiel am Gottesdienst teilnehmen, diesen aktiv mitgestalten oder sonstige Angebote der Kirche nutzen zu können.[3]

Es geht bei Inklusion zusammengefasst um ein Miteinander und nicht nur um ein Füreinander. Miteinander zu feiern und Gottesdienste und andere Anlässe möglichst gemeinsam zu gestalten und viele aktiv daran teilhaben zu lassen, lautet das richtungsweisende Ziel. Wie sieht diesbezüglich die heutige kirchliche Praxis aus? Dazu lässt sich trotz zahlreicher Erfahrungswerte aufgrund der dürftigen Datenlage wenig Abschliessendes sagen. Kurz: Man bemüht sich, hat aber in der Regel viel Weg vor sich.

Separat statt inklusiv

Traditionellerweise und am längsten bemühen sich Kirchen im Hinblick auf einen stärkeren Einbezug von Menschen mit Behinderung in Gottesdiensten, kirchlicher Unterweisung und Seelsorge. Da und dort werden sogenannte «inklusive Gottesdienste» angeboten. Erfahrungsgemäss werden diese häufig von Menschen mit Behinderung besucht und von Personen ohne offensichtliche Schädigungen organisiert und geleitet. Darüber hinaus bemüht man sich, die kirchliche Bildung auf Menschen mit Behinderung hin auszurichten. Dazu zählen auch die Angebote des heilpädagogischen Religionsunterrichts. Weiter existieren diverse kirchliche Angebote, um Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen angepasste seelsorgerliche Unterstützung zu bieten, zum Beispiel durch Fachstellen und Spezialpfarrämter für Behindertenseelsorge. Zudem gibt es inklusive sozial-diakonische Wohn- und Lerngemeinschaften oder inklusive kirchliche Freizeitangebote, zum Beispiel vom Verein Glaube und Behinderung.

Auffällig ist, dass vor allem separate beziehungsweise separierende Angebote für Menschen mit Behinderung existieren und wenige solche, die bewusst auf eine bessere Teilhabe und Mitgestaltung von Menschen mit Behinderung an kirchlichen Veranstaltungen und Projekten generell abzielen. Genau das wäre aber angesichts der Grundlagen einer inklusiven Kirche vor allem nötig. Eine Kirchgemeinde zu werden, in der sich möglichst viele Menschen beteiligen können, freiwillig und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, bedeutet, bewusst miteinander unterwegs zu sein. Dies im Wissen, dass Fehler dazugehören und es fortlaufend dazuzulernen gibt.

[1] vgl. z.B. die Studie des Sozialwerks der Heilsarmee Schweiz: Dazugehören – Dokumentation einer empirischen Erhebung an ausgewählten Standorten und Korps in der Schweiz. Summary des Schlussberichts, 2018, abrufbar unter: https://tinyurl.com/yc2c8ayc (25.9.2024).

[2] vgl. Merz, Oliver: Vielfalt in der Kirche? Der schwere Weg der Inklusion von Menschen mit Behinderung im Pfarrberuf. Interdisziplinäre und theologische Studien. Band 1, 2017, LIT, 171, 184-185.

[3] vgl. Merz, 2017, 171, 175-178, 186.

Schritt für Schritt zur inklusiveren Gemeinschaft

Um einzelne Personen und Gruppen in Kirchen zu inkludieren oder kirchliche Angebote und die ganze Gemeinde insgesamt inklusiver zu gestalten, können die vier Phasen des Inklusionskonzepts nach Merz dienen. Das Beispiel bezieht sich auf die Anstellung eines neuen Mitarbeitenden mit einer Behinderung.

Phase 1

Ziel / Zielgruppe definieren

Aufgaben

Team bilden, Rahmenbedingungen setzen

Beispiel

Beidseitige Ausgangslage und Bedürfnisse erörtern

Phase 2

Herausforderung benennen

Aufgaben

Barrieren und Hindernisse ausfindig machen, Zielgruppe(n) einbeziehen

Beispiel

Beidseits zu erwartende Herausforderungen benennen und besprechen

Phase 3

Überzeugungen überdenken

Aufgaben

Werte reflektieren und überarbeiten inklusive Kultur etablieren

Beispiel

In der Kirche vorherrschende Überzeugungen bspw. zu Heilung, Krankheit, Behinderung ansprechen und aufarbeiten

Phase 4

Massnahmen erarbeiten, umsetzen, überprüfen

Aufgaben

Aktionsplan erstellen, Evaluierung planen und durchführen

Beispiel

Geeignete Massnahmen für die erfolgreiche Inklusion des Mitarbeitenden erarbeiten und umsetzen

Abbildung in Anlehnung an das Inklusionskonzept nach Merz (Version 2023). Das ursprüngliche Konzept findet sich bei Merz, 2017, 175.

Auf der Grundlage der heutigen Erkenntnisse aus Theorie und Praxis lassen sich zudem Schritte ableiten, um Inklusion praktisch umzusetzen. Der folgende 10-Punkte-Plan kann dafür eine Orientierungshilfe sein – anstelle oder in Ergänzung des Inklusionskonzepts. Die Aufzählung ist nicht abschliessend, sie kann nach Gutdünken an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten angepasst und erweitert werden:

1. Betroffenheit schaffen und sensibilisieren
2. Werte und Überzeugungen gewinnen
3. Barrieren und Hindernisse entdecken sowie Herausforderungen benennen
4. Chancen und Förderfaktoren ausloten
5. Risiken eruieren
6. Massnahmen erarbeiten und Meilensteine definieren
7. Die Umsetzung beginnen
8. Etappen feiern
9. Strukturiert evaluieren
10. Am Ideal nicht zerbrechen, verheissungsorientiert leben und Unveränderliches aushalten

Oliver Merz ist promovierter Theologe, Gründer und Leiter des Instituts Inklusiv (www.institutinklusiv.ch) sowie Seelsorger in der Beratungsstelle Sela (www.sela.ch). Zudem wirkt er als Gastdozent, Referent und Autor. Er wohnt mit seiner Familie in Thun. www.oliver-merz.ch.