Mission: Durch Wort oder durch Werk?

Gehört das Missionieren zum christlichen Glauben? Was sind eigentlich Missionare? Was unterscheidet Mission von Evangelisation? Was ist die bessere «Predigt» – das Wort oder das Leben? Verwirklicht sich das Reich Gottes in der Kirche oder allgemein in der Welt? Solche und weitere Fragen diskutieren Felix Aeschlimann, Rektor am sbt Beatenberg, und Michael Girgis, Rektor beim IGW, zusammen mit Rolf Höneisen.

Beginnen wir mit einer einfachen Frage: Was ist ein «Missionar»? Den Begriff gibt es in der Bibel nicht …

Felix Aeschlimann: So einfach ist diese Frage gar nicht, zumal der Ausdruck einem Wandel unterliegt. Historisch gesehen ist er verbunden mit einer Person, die von einer Gemeinde für einen geistlichen Dienst in ein fernes Land ausgesandt wird. In der Praxis geht es dabei aber um die gleiche Tätigkeit, wie sie kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch tun, egal ob im In- oder im Ausland. Persönlich gefällt mir das Wort «Missionar» nicht besonders. Es wird verknüpft mit negativen Assoziationen.

Michael Girgis: In den 1980er-Jahren kursierte der Satz «Jeder Christ ein Missionar». Ich finde, das trifft den Kern, obwohl ich das Wort «Missionar» nicht verwende. Es geht um die Mission Gottes. Wer mit Jesus unterwegs ist, ist gerufen, diese Mission weiterzuführen. Jesus sagt: «Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.» Dieses «In-die-Weltgesandt-Sein» ist der Kernauftrag, eines – wenn man so will – Missionars. Ob nun interkulturell oder in der eigenen Kultur, ob als Vollzeiter oder nicht, das macht keinen Unterschied. Wir alle sind Gesandte.

«Missionieren» und «Missionar» sind gesellschaftliche Reizwörter. Warum verwenden wir sie?
FA: Sie sind ja nicht falsch, sondern abgeleitet vom Lateinischen Missio Dei – Gottes Auftrag, Gottes Sendung. Wir sollen in die Welt, das Evangelium verkündigen, die Menschen taufen und sie lehren. Das ist ein Auftrag von Gott. Im säkularen Umfeld wird der Begriff «Mission» zudem häufig verwendet. Firmen legen Wert auf ihr «Mission Statement», Menschen verfolgen ihre «Mission».

MG: Gemeindeumfragen zeigen, dass unter «Missionar» jemand verstanden wird, der nach Afrika reist und dort das Evangelium predigt. Das finde ich mit Blick auf die christliche Sendung eine ungünstige Engführung und missverständlich. Wir sollten neue Wörter verwenden, die unseren Dienst verständlicher vermitteln, ohne den Inhalt zu verändern.

Sie wollen das Wort «Missionar» streichen. Womit ersetzen Sie es?
MG: Was wollen wir mit dem Begriff ausdrücken? Geht es um die allgemeine Sendung oder um den spezifischen Einsatz? Wenn wir von ausgesandten Mitarbeitern in einer interkulturellen Arbeit sprechen, dann geben wir ihnen am besten eine Berufsbezeichnung wie Leiter oder Lehrer. Wollen wir ausdrücken, dass wir alle gerufen und gesandt sind, gilt es wieder einen anderen Begriff zu suchen.

Das Seminar für biblische Theologie Beatenberg will gemäss Homepage Menschen für «Gemeinde oder Mission» qualifizieren. Wird das Wort «Missionar» innerhalb des Seminars verwendet?
FA: Wir benutzen das Wort, ja. Es ist unter Christen nach wie vor verständlich. Aber – da gebe ich Michael recht – es kann missverständlich sein.

Wie missverständlich?
FA: Zum Beispiel dann, wenn jemand in der Schweiz den genau gleichen Dienst tut wie eine Person in Afrika. Einer wird als Missionar bezeichnet. Aber was ist der andere?

Wie lösen Sie dieses Dilemma?
FA: Indem wir von kirchlichen Mitarbeitenden reden oder von Gemeindemitarbeitenden. Was sie tun, ist ihr Beruf: Sie sind Pastoren in Asien wie in der Schweiz, sie sind Diakone hier wie dort. Wir sagen, was sie tun, und reden erst dann über ihr Einsatzgebiet.

Was ist der Unterschied zwischen Evangelisation und Mission?
MG: Auch Evangelisation ist ein verschwommener Begriff. Im Gemeindekontext wird Evangelisation als innerhalb unseres Landes stattfindend verstanden, Mission als ausserhalb. Diese Unterscheidung trifft die ursprüngliche neutestamentliche Begrifflichkeit nicht. Eine mögliche Definition von «Evangelisation» könnte heissen: «Ersteinladung in eine persönliche Beziehung mit Jesus. » Das ist aber kein Schlusspunkt! Das Evangelium soll und darf uns auf dem Weg mit Jesus immer wieder neu erfassen und im Leben zur Anwendung kommen. Evangelisation kann als Anfang betrachtet werden und Mission als ganzheitlich, transformierend.

FA: Ich unterscheide nicht zwischen Evangelisation und Mission. Evangelisation ist Mission und Mission ist Evangelisation. Dieser Auftrag ist auch nicht unterteilt in Inland und Ausland.

Zum Christentum gehört das Weitertragen seiner Kernbotschaft. Der grosse Auftrag dazu kommt von Jesus in Matthäus 28, 19 und 20. Was bedeutet der sogenannte Missionsbefehl heute?
FA: Luther sagte: Das Evangelium ist ganz simpel herunterzubrechen auf «Gott rettet Sünder». Wovor rettet er sie? Vor der gerechten und verdienten Strafe. Das ist die Essenz und steht im Fokus unseres Dienstes. Was darüber hinaus im Zusammenhang mit Evangelium genannt und getan wird, ist für mich Peripherie, aber nicht der Kern.

MG: Der Auftrag in Matthäus 28 ist die unbestrittene Grundlage der Mission. Er hat nichts an Relevanz verloren. Geändert hat sich der Kontext. Die christliche Mission weiss sich aber einem noch umfassenderen Auftrag verpflichtet als nur diesen Versen. Der Auftrag heisst, Menschen in die Nachfolge, in die Jüngerschaft zu rufen, sie zu taufen, sie zu Jüngern, sprich Schülern, zuzurüsten und sie anzuleiten, alles zu halten, was Jesus angeordnet hat. Das ist unsere Mission, unsere Sendung. Daran ändert sich nichts, bis Christus wiederkommt.

Michael Girgis betont das jüngerschaftliche Leben, Sie – Felix Aeschlimann – betonen eher den Aufruf zur Umkehr. Warum?
FA: Natürlich gehört Jüngerschaft zum Auftrag. Die Frage ist: Was ist Gute Nachricht, was ist Evangelium? Mir geht es darum, dass der Wagen nicht vor das Pferd gespannt wird.

Was bedeutet das Pferd, was der Wagen?
FA: Das Evangelium ist zuerst eine historische Angelegenheit. Jesus sagte: «Es ist vollbracht!» Er hat für unsere Schuld bezahlt. Ein Leben, das sich einsetzt für die Menschen, für Diakonie oder Bildung erfordert zuerst die Erneuerung des korrupten Herzens. Zum Bild: Das Pferd – Erneuerung, Busse und Umkehr – kommt vor dem Wagen – vor dem Tun. Sonst droht uns ein Absturz in den missionalen Aktivismus.

Besteht die Gefahr, dass in unserer Zeit die Tat vor das Wort gestellt wird, Michael Girgis?
MG: Alles beginnt mit der Hinwendung zu Jesus, mit einer gnädigen Einladung. Keiner hat es verdient, aus sich selbst heraus in Kontakt mit Gott zu treten. Mit der Taufe bekräftigt ein Mensch, dass er das Geschenk von Gott annimmt. Aus eigener Kraft heiliger leben zu wollen, ist sinnlos. Nicht hilfreich finde ich hingegen das Trennen von Glauben und Leben. Jesus hat nie nur dazu eingeladen, sich taufen zu lassen und fertig. Wenn man den Menschen nicht anmerkt, dass sie mit Jesus unterwegs sind, ist das tragisch für diese Personen und kostet uns Christen viel an Glaubwürdigkeit. Zum Bild: Das Pferd bleibt vor dem Wagen. Aber man darf Pferd und Wagen nicht trennen.

FA: Es gilt daran festzuhalten, dass allein der Glaube und nicht irgendeine Tat rettet! Aber der Glaube führt zu einem transformierten Denken, woraus neues Handeln wächst.

MG: Die Verkündigung des Evangeliums ist der wichtigste Auftrag der Kirche! Er besteht in Wort und Tat. Die Kraft der Botschaft von Jesus hängt zusammen mit seiner Person und seiner Tat. Er predigte nicht nur Liebe, sondern war und lebte die Liebe. Wenn wir von Liebe reden, sollen wir Liebe leben. Wenn wir von Gnade reden, sollen wir Gnade leben. Sonst bleibt die Botschaft ohne Kraft.

Beobachten Sie eine Verschiebung hin zur Tat und weg vom Wort?
FA: Die gibt es. Das Evangelium ist eine Provokation. Wir reden von Gott, von Sünde, von Strafe, vom Kreuz. Wir sind geneigt, dieser Provokation auszuweichen, weil das Wort aneckt. Soziale Projekte sind attraktiver als das Weitersagen des provokanten Evangeliums! Aber ich bin überzeugt: Ohne Wortverkündigung können wir keinen Menschen zu Jesus führen. Auch Jesus setzt bei der Essenz des Evangeliums an, als er zum Gelähmten als erstes sagt: «Deine Sünden sind dir vergeben.»

Sozial helfen können andere genauso, nicht aber das Evangelium kommunizieren…
MG: Da bin ich soweit einverstanden. Unter «Verkündigung» verstehe ich aber mehr, nämlich Wort, Werke und Wunder. Das ist matchentscheidend! Wenn ich sage, ich liebe jemanden, aber mein Verhalten zeigt das nicht, dann ist mein Wort nicht viel wert. Erst die Erneuerung durch den Heiligen Geist macht fähig zu einem anderen, neuen Leben. Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit ist eine Frucht des Evangeliums. So kann ich zum Beispiel Menschen lieben, die ich vorher gehasst habe. So zu leben, ist uns aus Gnade von Gott geschenkt. Es braucht keine Vorleistung. Keiner ist zu schlecht, dass ihn Gott nicht mehr gebrauchen könnte.

FA: Einverstanden – ein verändertes Herz führt zu verändertem Handeln. Ich bleibe aber dabei: Unser Wirken soll nicht zum Evangelium werden. Weil wir früher oder später scheitern werden.

Ist diakonische Hilfe ohne vom Evangelium zu reden sinnlos, Felix Aeschlimann?
FA: Nehmen wir Römer 10: Die Verkündigung des Evangeliums muss vorangehen. Wie gelangen Menschen zum Glauben an Gott? Durch die Predigt. Diese «Predigt» ist nicht gleichzusetzen mit unserem Leben. Es ist ein historisches Ereignis; das, was Jesus getan hat. Ich möchte davor warnen, den Fokus auf unser Tun zu schieben. Ich höre in evangelistischen Botschaften häufig dieses moralische Argument: «Jesus macht neue Menschen, Süchte sind vergangen, Ehen für alle Zeit geheilt, Christen sind ehrlich, fleissig und freundlich.» Wir trumpfen auf mit Erfolgsstorys. Warten wir ab, bis unser Leben eben nicht mehr so gut predigt. Unser Leben kann scheitern. Das Evangelium von Jesus Christus bleibt.

Das Leben kann «predigen». Was, wenn Menschen scheitern?
MG: Mein Leben predigt lauter als meine Worte. Die Menschen spüren sehr wohl, ob ein Christ authentisch ist oder ein Heuchler. Ich bin insofern mit Felix einverstanden, dass wir in einer gefallenen Schöpfung mit zerstörerischen Mechanismen leben. Diese sind nicht nur vor der Hinwendung zu Jesus am Werk, während nachher nur noch Friede, Freude, Eierkuchen ist. Die zerbrochene Schöpfung mit Versagen, Krankheit und Tod prägt mein Leben weiterhin. Der Umgang damit ist eine Bewährungsprobe. Das Superman-Image, das sich manche christliche Leiter geben, halte ich für gefährlich. Die Gute Nachricht ist eine andere. Das Evangelium lehrt, dass wir es selber nicht schaffen und Jesus uns trotzdem liebt und uns in seinem Reich gebrauchen kann.

Das heisst, Christen sind keine besseren Menschen?
MG: Wenn mir jemand sagt, Christen sind auch keine besseren Menschen, dann sage ich ihm, dass er absolut recht hat. Wir ringen mit den gleichen Problemen wie alle. Der Unterschied liegt in einer anderen Möglichkeit, mit der eigenen Zerbrochenheit umzugehen. Aus der Beziehung mit Gott kommen neue Lösungen, zum Beispiel die Möglichkeit der Vergebung.

FA: Christen sind nicht besser. Sie leben mit einem anderen Fokus – aus der Liebe und Vergebung Gottes. Aber noch einmal: Was ist, wenn mich die buddhistische oder islamische Spiritualität glücklich macht und mein Leben für Buddha oder Mohammed spricht? Mein subjektives Empfinden wird in diesem Fall das historische Geschehen überlagern. Deshalb reden Christen von Jesus und erzählen, was er getan hat und was das für sie bedeutet.

MG: Die Bibel ist total ehrlich. Sie schildert zum Beispiel die Rachegedanken von David oder Intrigen innerhalb von Familien. Das Bewegende am Evangelium liegt genau hier: Trotz meines Versagens ist meine Identität durch Gott gesichert. Es hängt nicht von meiner Performance ab, wie sehr mich Gott liebt. Die Bibel ist voll mit tröstlichen Zusagen, dass Gott auch im Leiden da ist und in Situationen gegenwärtig, die sich nicht ändern wollen.

Christinnen und Christen werden von ihrer Umgebung beobachtet. Jesus sagt, sie sind Salz und Licht. Die Menschen sollen ihre guten Werke sehen und dadurch Gott preisen. Mit anderen Worten: Das Leben spielt durchaus eine wichtige Rolle, wenn es um Gottes Offenbarung geht. Das lässt sich nicht unter den Scheffel stellen…
FA: Nein, deshalb ist es ja so wichtig, Christus und seine Worte und sein Wirken ins Zentrum zu stellen, denn diese bleiben unerschütterlich. Wenn uns aber die Liebe Gottes erreicht hat, dann werden wir anders denken und handeln. Ein Christsein ohne praktische Hilfe, ohne Diakonie, ohne gelebten Glauben, kann ich mir nicht vorstellen! Denken wir an Jakobus 2: «Glaube ohne Werke ist tot». Wenn ein Bruder oder eine Schwester Mangel leidet und wir für sie nichts weiter als gute Worte haben, dann ist unser Glaube nicht wirklich lebendig. Aber auch Jakobus setzt der Tat einen lebendigen Glauben voraus.

MG: Gemäss Bibel sind Christen lebendige Briefe. Unser Leben ist wie ein Trailer, ein Vorfilm, mit einigen guten Szenen. Der Hauptfilm, das vollendete Werk, folgt noch. So hoffe ich, dass mein Leben wie ein Trailer ist, der Lust macht auf das vollkommene Reich Gottes. Die Spannung zwischen Soll und Ist will ich in dem Sinne aufheben, dass ich lerne, mit meiner Zerbrochenheit umzugehen. Das ist für mich auch Evangelium. Ich will nicht nur über Siege reden, sondern auch ehrlich über mein Scheitern und meine Kämpfe im Leben. Dass es gut kommt, ist eine Folge des Heils, der Erlösung, der Wiederherstellung durch Jesus.

Wenn ich davon ausgehe, dass Gottes Reich angebrochen ist und auf dieser Erde etabliert wird, dann dient der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung diesem Ziel, während die Wortverkündigung an Relevanz verliert. Beeinflusst die eschatologische Sicht die theologische Zukunftsperspektive, den Fokus der christlichen Mission?
FA: Eine schwierige Frage. Es geht zum einen um das Verständnis von Gottes Reich und zum anderen darum, wie sich Gottes Reich etabliert. Eine Mehrheit der Christen glaubt, das Reich Gottes ist schon jetzt Realität, wird aber erst in Zukunft vollendet. Diese Dialektik ist der Schlüssel, um die nicht einfache Spannung auszuhalten. Wir haben biblische Hinweise, die sowohl das «schon jetzt» als auch das «noch nicht» belegen. Jetzt gibt es theologisch- eschatologische Systeme, die das «noch nicht» vernachlässigen und andere, die das «schon jetzt» kleinhalten. Dazwischen gibt es weitere Schattierungen. Wenn Gottes Reich nur zukünftig ist, dann hat die Arbeit der Kirche keine Bedeutung für den Bau von Gottes Reich heute. Dann gestalten wir den Gemeindebau und die missionarische Arbeit tatsächlich anders als jemand, der das Reich Gottes schon heute als realisiert betrachtet. Auch gesellschaftliche Umstände beeinflussen im Übrigen die Prioritäten der Mission. Das zeigt die Kirchengeschichte.

MG: Die Eschatologie ist ein wichtiger Faktor. Er bestimmt, wie wir leben. Ich versuche, dieses grosse Thema zu vereinfachen: Was im vollkommenen Reich Gottes relevant und vollendet zum Ausdruck kommen wird, hat schon jetzt begonnen. Alles Denken und jeder Einsatz in diese Richtung lohnt sich. Egal, welche eschatologische Sicht vom Übergang vom Alten zum Neuen man nun genau hat. Wir sind gerufen, die Mission Gottes voranzubringen. Das geschieht durch die Verkündigung des Evangeliums durch Wort und Tat, durch den Ruf zum Glauben und eben auch durch das Eindämmen von Gewalt sowie den Einsatz für soziale Gerechtigkeit, durch die Befreiung von Menschen aus Armut und Unterdrückung. Denn eines Tages wird die Gerechtigkeit vollkommen sein. Jesus hat in Lukas 4,18 seine Sendung beschrieben: Verkündigen des Evangeliums, indem er Gefangenen Freiheit bringt, Blinde sehend macht und Zerschlagene wiederherstellt. Dafür sollen wir uns schon heute engagieren und im Sinne von Gottes Reich handeln, bis hin zum Höhepunkt der Geschichte, der Wiederkunft von Jesus Christus.

FA: Es geht nicht nur um Eschatologie, sondern auch um die Frage, was meint «Reich Gottes»? Für mich ist Reich-Gottes-Arbeit die Arbeit der Kirche. Das leite ich ab aus Matthäus 16,18 bis 19: «Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.» Kirche und Himmelreich werden miteinander verbunden. Jede kirchliche Aktion auf der Erde hat eine geistliche Wirkung im Himmel. Wir sind – gemäss Paulus – schon jetzt versetzt worden in das Reich Gottes. Die Gemeinde von Jesus ist das Reich Gottes, das wir von ihm empfangen. Wir müssen es nicht selber bauen. Gott baut und braucht uns dazu. Ja, Christen sollen sich einbringen in den politischen Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Aber dies im Rahmen der allgemeinen Gnade Gottes, er lässt regnen über Böse und Gute. Das Reich Gottes sehe ich aber verwirklicht im Rahmen der Gemeinde von Jesus, in der Kirche.

Das bedeutet eine Trennung zwischen Kirche und Welt. Das missionale Denken betont aber gerade die Integration, Michael Girgis?
MG: Kirche ist das wichtigste Heilswerkzeug Gottes, um seine Mission in der Welt voranzutreiben. Aber das Reich Gottes und Gottes Heilshandeln gehen über die Kirche hinaus in die ganze Welt. Sie sind auch ausserhalb der Kirche spürbar. Gott berührt Menschen, ohne dass sie in einer Kirche sind. Wir wissen zum Beispiel, dass Gott sich im islamischen Kontext oft über Träume offenbart. Der biblische Begriff «Schalom» beschreibt nicht nur die spirituelle Seite, sondern die ganze Breite der Veränderung, die Jesus bewirkt. Er umfasst nicht allein die Zusage, dass ich meine Ewigkeit bei Gott im «ewigen Schalom» verbringen werde, sondern auch politischen Frieden, wirtschaftliches Wohlergehen, soziale Gerechtigkeit. Im alten Israel wusste man, dass dies alles eines Tages mit dem Friedefürsten so kommen wird. Das gehört mit zum Kernauftrag, zur umwälzenden Kraft der Guten Nachricht. Gottes Reich hat eine globale Dimension. Die Kirche ist eine Sammlung von Menschen, die den Leib von Jesus verkörpert und seine Herrschaft über die Kirchenmauern hinaus sichtbar macht.

FA: Wo echte Veränderung geschieht, passiert sie durch Gottes Geist. Wo das Reich Gottes gebaut wird, hat es eine politische Auswirkung. Das erleben viele Absolvierende unseres Seminars, die heute in Asien oder Afrika arbeiten, wo sich ganze Gesellschaften verändern. Das verbinde ich aber mit der Tätigkeit der Kirche, nicht mit politischer Aktion neben der Kirche. Das Reich Gottes ist kein Parteiprogramm. Wir müssen das Übel an der Wurzel packen, beim Denken des Menschen in seinem Herzen. Das Reich Gottes mit menschlichen, politischen Mitteln selber bauen zu wollen, ist falsch und zum Scheitern verurteilt. Wir müssen aufpassen, nicht in diese Falle zu geraten.

MG: Diese Sicht teile ich. Es bleibt aber die Tatsache, dass Christen Salz und Licht der Welt – nicht nur der Kirche – sind. Salz und Licht sollte seine Wirkung auch in Politik und Gesellschaft ausüben, damit die Strahlkraft des Reiches Gottes schon heute die Welt erfasst und es nicht beim Vertrösten auf den Himmel bleibt.

FA: Das Reich Gottes ist mehr als die Vergebung individueller Sünden. Sünder kommen zum Glauben. Und das neue Leben aus Gott wird die Gesellschaft transformieren.

Das Gespräch führte Rolf Höneisen.