Susanne* war zehn Jahre lang Mitglied einer Sekte und hat darum während jener Zeit ihre Kinder anders ins Leben begleitet, als sie es heute tun würde. Wie sie damit umgeht und trotz allem Gottes Güte erlebt.
Dietrich Bonhoeffer schrieb: «Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.»
Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass er nicht nur mit ihnen fertig wird, sondern daraus sogar Gutes wachsen lassen kann.
Zum Beispiel?
Wir waren zehn Jahre lang Mitglied einer christlichen Gemeinschaft, die sich zu einer Sekte entwickelte. Aufgrund dieser Erfahrung habe ich nun gute Sensoren, was missbräuchliche Tendenzen anbelangt, die es übrigens überall geben kann.
Wie gehen Sie mit Ihren eigenen Fehlern und Irrtümern um, was die Auswirkungen Ihrer ehemaligen Sekten-Mitgliedschaft betrifft?
Es war ein schmerzlicher Prozess der Versöhnung. Inzwischen sehe ich vor allem die Barmherzigkeit und Güte Gottes, ich könnte ein ganzes Buch über dieses Thema schreiben.
Inwiefern?
Zum Beispiel, dass uns viele Menschen unterstützten, als wir den Schritt aus der Sekte gemacht haben. Wir sind reich beschenkt worden, sei es mit tatkräftiger Hilfe wie Kinderbetreuung oder Einladungen, um in die Ferien zu gehen. Ich habe mal alles aufgeschrieben und ich kann Ihnen sagen, dass es eine unglaublich lange Liste geworden ist.
Nochmals zu Irrtümern: Kennen Sie Selbstvorwürfe?
Oh ja. Der grösste Schmerz ist wahrscheinlich der, dass ich meinem Herzen nicht gefolgt bin, mich einem System untergeordnet habe, das nicht meines war. Ich liess mir eine gewisse Herzenshärte aufdrücken. Lange Zeit kämpfte ich mit diesen Selbstvorwürfen, bis ich dank meiner Freundin ein Aha-Erlebnis hatte und merkte, dass diese Gedanken Anklagen sind und somit aus der falschen Küche kommen. Das war ein Prozess. Heute anerkenne ich das Vergangene und bin zugleich in eine Freiheit gekommen – auch bezüglich meiner Kinder.
Erzählen Sie.
Es tut mir leid, wenn sie jetzt, längst erwachsen, schwierige Themen haben, gleichzeitig knechtet mich diese Tatsache nicht mehr. Ich kann bei mir bleiben und klar sein. Und sie dürfen leben, wie sie wollen. Ich respektiere ihre Entscheidungen. Ich bin für sie da, unterstütze sie, wenn es mir möglich ist und sie dies wollen. Das ist bei jedem Kind unterschiedlich. Auch heute noch signalisiere ich meinen erwachsenen Kindern Offenheit bezüglich unserer Vergangenheit in der Sekte. Sie dürfen mir sagen, was sie als Kind nicht gut erlebt haben, damit ich mich dafür entschuldigen kann. Ich bin sehr beeindruckt von ihrer Grossherzigkeit.
Was bedauern Sie mit Blick auf die Kindererziehung?
Vieles. Dass ich die Kinder bestraft habe, zum Teil auch körperlich. Sie mussten parieren. Ähnlich, wie wir gegenüber der Sekte parieren mussten. Ich stehe dafür ein, dass Gewalt gegen Kinder immer falsch ist, sei es körperliche oder emotionale. Zudem lebten wir nur innerhalb unserer Familie und der Sekte. Wir kapselten uns gegen die vermeintlich gefährliche Aussenwelt ab.
Das heisst?
Während etwa acht Jahren hatten wir keinen Kontakt zu unseren Eltern, anderen Verwandten und zu den Gottis und Göttis unserer Kinder. Weihnachten und Ostern feierten wir nicht, weil sie als heidnisch galten. Wenn in der Schule die Weihnachtsfeier stattfand, behielten wir die Kinder zu Hause. Die Sekte hatte einen eigenen Kindergarten, den unsere Kinder besuchten. Sie gingen zwar in die öffentliche Schule, durften aber keine Klassenkameraden heimbringen oder zu ihnen spielen gehen. Hobbies in irgendwelchen Vereinen waren auch ein Tabu. Spielplätze besuchten wir nur zusammen und blieben unter uns. Allen, die anders glaubten und dachten, galt es – wenn immer möglich – aus dem Weg zu gehen.
Das klingt anstrengend.
Es war eine Kultur der Angst, im Sinne von: Bin ich dann wirklich dabei, wenn Jesus wiederkommt? Mein ungeklärtes Gottesbild hat mir ein Bein gestellt. Ich hatte zwar das Bild des gütigen Gottes – aber eben auch dasjenige von einem Gott, der Angst macht. Angst, ob ich genüge und genug für Gott gemacht habe. Angst, ob ich mich richtig und genug bekehrt habe. Und dieser Teil meines ungeklärten Gottesbildes bekam während der zehn Jahre in der Sekte die Oberhand. Diese Angst war überall. Die Kinder wuchsen in dieser Atmosphäre auf, noch bevor sie den ersten Atemzug genommen hatten. Eine Folge dieser Zeit war, dass ein paar unserer Kinder psychisch erkrankten. Das war eine erschütternde Erfahrung.
Wie geht es Ihren Kindern heute?
Sie machen ihren Weg. Wir haben die kleinen Schritte einer Genesung zu schätzen gelernt und viel Wiederherstellung, Gnade und massgeschneiderte Lösungen von Gott erfahren.
Massgeschneidert?
Für einen Sohn suchten wir zum Beispiel einen Ort, wo er nach dem Klinik-Aufenthalt sein, arbeiten und gesunden konnte. Irgendwie hörten wir von einer Bauernfamilie im Emmental. Es passte dann alles total gut und er verbrachte dort ein ganzes Jahr.
Gibt es etwas, das Sie in der Kindererziehung heute noch gleich machen würden?
Die Einfachheit, die wir hatten. Wir verbrachten viel Zeit draussen. Sei es im Wald oder am See oder am Fluss. Wir überhäuften die Kinder nicht mit Spielsachen und haben den Alltag miteinander verbracht. Ich würde sagen, ich war trotz allem aufmerksam im Umgang mit meinen Kindern.
Was hat Ihnen bei der Verarbeitung der Sekten-Vergangenheit geholfen?
Reden, reden, reden, den Schmerz auf diese Weise rauslassen. Schreiben, draussen sein, walken, Velo fahren. Und natürlich die Musik. Endlich konnte ich wieder die Weite der Musik geniessen.
Zum Schluss nochmals ein Zitat über Fehler. Diesmal vom renommierten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul (1948 – 2019): «Die besten Eltern machen 20 Fehler pro Tag.»
Dem stimme ich zu. So ist das Leben. Und: Besser, als krankhaft Fehler vermeiden zu wollen, ist es, aus den Fehlern zu lernen. Wichtig ist, dass wir uns bei den Kindern für unsere Fehler entschuldigen und ihnen sagen, dass es uns leidtut.
*Susanne ist ein fiktiver Name, da die Person anonym bleiben möchte.

Das Gespräch führte Martina Seger-Bertschi. Sie ist freischaffende Journalistin und liest gerne Bücher von Jesper Juul.