Mal konkret: Wie sieht’s in den Kirchen aus?

Es gibt Leitfäden und Beratungsstellen, die dienlich sein können, um als Kirche für Menschen mit einer Behinderung einladender zu werden. Doch jede Gemeinschaft muss für sich entscheiden, welche Priorität dies hat, und herausfinden, was sie dafür tun kann. Sarah Staub, Jonathan Verwer und Tobias Zehnder erzählen anhand von fünf Fragen, wo ihre jeweilige Kirche steht, und geben Tipps aus ihrer eigenen Erfahrung und Betroffenheit weiter.

Sarah Staub: John Wesley, der Gründer des Methodismus, betonte in seinem theologischen Verständnis deutlich die Bedeutung von sozialem Engagement und sozialer Heiligkeit. Als Methodistinnen und Methodisten glauben wir, dass das Evangelium nicht nur individuelle, sondern auch soziale Dimensionen hat. Die United Methodist Church (UMC) ist die einzige Kirche, die kein eigenes Glaubensbekenntnis, dafür ein soziales Bekenntnis mit sozialen Grundsätzen hat.[1] Darin wird ausführlich zu Inklusion, Ableismus und Würde von Menschen mit Behinderungen Stellung genommen. Unter anderem wird die Abschaffung aller Barrieren gefordert, die Menschen an Teilhabe hindern, und auch der negative Einfluss der Kirche auf die Abwertung von Menschen mit Behinderungen wird anerkannt und bedauert.

[1] vgl. Die Sozialen Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche: https://www.umcjustice.org/documents/126 (17.10.2024).

Jonathan Verwer: Inklusion ist nicht explizit ein Thema. Es gibt kein spezielles Team oder Projekt dafür, was ich grundsätzlich begrüsse. «Inklusion von Menschen mit Behinderung» soll kein Sonderbereich sein, der eines Tages abgeschafft werden könnte. Bei uns sind Menschen mit verschiedenen Stärken und Schwächen aktiv. Allerdings ist das Thema «Behinderung» sichtbarer geworden, seit meine Frau unseren Sohn Keoni nach dem Gottesdienst im Rollstuhl zur Kirche bringt.

Tobias Zehnder: Auch wenn Jesus das Wort Inklusion nicht benutzt hat, war sie bereits zentrales Thema seiner Verkündigung. Denken wir daran, wie er sich immer wieder den Menschen am Rand der Gesellschaft zugewandt, sie in den Mittelpunkt gerückt hat. Vielleicht kommen uns bei diesen «Randständigen» zuerst arme und kranke Menschen in den Sinn. Aber wie schon zu Jesu Zeiten gehören hier klar auch Menschen mit Behinderung dazu. In der Schweiz sind das etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Das ist eine ganze Menge, die sich ihre Teilhabe immer wieder erstreiten muss. Eine Kirche, die Jesus Christus folgt, kommt nicht darum herum, sich ebenfalls für diese Teilhabe einzusetzen – sei es im Gemeindeleben, das leider oftmals weitab von inklusiv ist, sei es in unserer Gesellschaft.

S.S: Sie hat mich eingestellt. Spass beiseite: Die UMC begrüsst Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Diensten und Rollen, auch als Laien oder ordinierte Pfarrpersonen. Fachleute mit Behinderungen werden für Veranstaltungen oder Gottesdienste angefragt, bestehende Kapellen und Neubauten werden barrierefrei umgebaut bzw. geplant. Trotz der Barrieren in alten Kapellen und teils auch in den Gottesdiensten wird volle Teilhabe angestrebt und das Bewusstsein besteht grösstenteils weltweit. Es gibt das internationale «Disability Ministries Committee» oder die Bestrebung unter anderem in der Schweiz, sich der Organisation «Hidden Disabilities Sunflower», einer Organisation für unsichtbare Behinderungen[1], anzuschliessen.

[1] vgl. https://hdsunflower.com/uk/ (17.10.2024).

J.V: Die Kirchenleitung hält es für wichtig, dass alle Menschen in unsere Gemeinde kommen können und herzlich eingeladen sind auch teilzunehmen. Es gibt keine bewusste Ausgrenzung. Allerdings gibt es, wie in der Gesellschaft insgesamt, eine grundlegende Annahme von Normalität, die sich in unserer Theologie und Praxis widerspiegelt. Wir haben Inklusion in unsere Vision unter dem Namen «Safe Place» integriert. Dieses Konzept muss noch weiter ausgearbeitet werden. Wir haben auch eine Rampe installiert, die sich harmonisch in das Gebäude einfügt.

T.Z: Wir arbeiten zum Beispiel an baulichen Massnahmen, um die Teilnahme am Abendmahl für Menschen mit Rollstuhl zu verbessern. Räume, die für alle einladend und zugänglich sind, schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Darüber hinaus versuchen wir, Menschen für unterschiedliche Bedürfnisse zu sensibilisieren, etwa an Infoanlässen zum Thema Autismus. Erst im Bewusstsein um die Bedürfnisse und Begabungen anderer kann eine echte sorgende Gemeinschaft entstehen.

S.S: Die weltweite methodistische Kirche steht vor Herausforderungen wie Klimawandel, Flüchtlingskrise und (politischem) Extremismus. Die UMC schrumpft und Ressourcen werden, auch finanziell und personell, knapper. Behindertennegativität oder -feindlichkeit findet sich, meist unbewusst, auch in methodistischen Kirchen und Theologien. Als Kirche mit vielen Ausschüssen, Gremien und demokratischen Konferenzen ist die UMC schwerfällig: Veränderungen geschehen nur langsam. Aufgrund der Komplexität, der Ausführlichkeit und der Dauer können nicht alle gleichberechtigt an diesen – eigentlich demokratischen – Beschlüssen teilhaben. Besonders dafür wünsche ich mir mehr Bewusstsein. Ich beobachte zwar ermutigende Fortschritte und vermehrtes Bewusstsein. Am Ziel sind wir jedoch auch als UMC noch lange nicht.

J.V: Einige haben Erfahrung mit Behinderung und viele zeigen Mitgefühl dafür, aber es ist kein Thema, das grosses Interesse weckt. Wir als Gemeindeleitung und Pastoren haben auch noch nicht aufgezeigt, wie sich das Thema Behinderung auf jeden Aspekt unseres Glaubens auswirkt – beispielsweise auf unser Verständnis des Menschen, von Gott, Jesus, Schuld, Lobpreis, Gebet und Gottes Wort. Ich freue mich sehr, dass wir eine Rampe haben. Aber Rollstuhlfahrende können bisher nur mit grossen Schwierigkeiten ins Untergeschoss gelangen, wo sich einige Gemeinschaftsräume sowie die Toiletten befinden. Dies zu ändern, ist jedoch für die Zukunft geplant.

T.Z: Gerade die baulichen Veränderungen sind angesichts der Denkmalpflege in alten Gemäuern nicht immer einfach. Da gilt es jeweils abzuwägen zwischen historischer Pflege und zeitgemässer Nutzbarkeit. Grenzen gibt es zudem auch, was Ressourcen angeht. Der gute Wille ist oftmals zwar da, aber es fehlen die finanziellen und personellen Mittel. Ein Wunsch von mir wäre ausserdem, dass Menschen mit und ohne Behinderung in unserer Kirche noch häufiger miteinander unterwegs sind.

S.S: Ich möchte nicht von Gewinn sprechen, denn die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung ist nicht diskutabel, sie ist Menschenrecht. Wenn Kirche für alle Menschen offen ist, dann muss sie dies auch vollumfänglich für alle sein. Ob wir Menschen mit Behinderungen «Gewinn» bringen oder nicht, spielt keine Rolle: Ich bin würde-, wertvoll und von Gott geliebt, auch dann, wenn ich nichts «bringe» oder leiste. Dazu ergänzend muss gesagt sein, dass Menschen mit Behinderungen die einzige Minderheitsgruppe sind, zu der über kurz oder lang fast alle Menschen gehören. Spätestens im Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, selbst von einer Behinderung betroffen zu sein, erheblich. Nur drei Prozent aller Behinderungen sind angeboren.

J.V: Eine inklusive Kirche ist ein Medium für Gottes Königreich und untergräbt kulturelle Ideologien. Wenn eine Kirche beginnt, die Veränderungen zu verkörpern, die sie in der Gesellschaft sehen möchte, wird sie zu einer starken Kraft für gesellschaftlichen Wandel.

T.Z: Gerade Kirche hat mit ihrem Auftrag, Menschen am Rand in ihre Mitte zu nehmen, die Möglichkeit, nicht über, sondern mit Menschen mit Behinderung zu sprechen. In einer schnelllebigen Zeit kann sie wirklich zuhören, wo Bedürfnisse und Begabungen liegen. Das baut Berührungsängste ab und ermöglicht ein Miteinander auf Augenhöhe. Viele unserer alltäglichen Sorgen und Ängste relativieren sich dadurch und wir sehen das Leben in einem neuen Licht. In der Begegnung mit anderen Lebensumständen werden wir herausgefordert, auch unser eigenes Leben zu hinterfragen. Das mag zwar auch unseren Glauben herausfordern, doch ich bin überzeugt, dass er dadurch letztlich gestärkt wird.

S.S: Beziehen Sie uns in Ihre Arbeit, in Ihre Diskussionen, in Ihr Leben und in Ihre Kirchen mit ein. Sprechen Sie mit uns, nicht über uns. Und fangen Sie irgendwo an: lieber etwas tun als gar nichts tun. Keine Kirche und keine Gesellschaft ist perfekt – aber wir können Schritt für Schritt gemeinsam in eine gleichberechtigte Zukunft gehen.

J.V: Das hat uns als Kirche geholfen:

  • Klare schriftliche Beschilderungen in der gesamten Kirche
  • Grosse Schrift für Beschilderungen und gedruckte Materialien verwenden
  • Farbcodierte Etiketten einführen: grün für aufgeschlossen, rot für keinen Körperkontakt (kann für Personen überfordernd sein; dies ist zu respektieren und ihnen entsprechend Raum zu geben)
  • Gehörschutz (Ohrstöpsel)bereitstellen
  • Transparent über Möglichkeiten und Grenzen punkto barrierefreien Zugangs informieren (z.B. auf der Webseite)
  • Unterstützung beim Abendmahl anbieten
  • Ableistische Sprache wie «bitte aufstehen» oder «bitte setzen» vermeiden
  • Predigten und Vorträge im Bewusstsein halten, dass sich auch Menschen mit Behinderungen im Publikum befinden
  • Gastredner einladen, die auf Inklusion von Menschen mit Behinderungen spezialisiert sind, z.B. Experten von Organisationen wie «Glaube und Behinderung» oder «Institut Inklusiv»
  • Theologische Bücher zum Thema Behinderung in die Kirchenbibliothek aufnehmen
  • Eine Kultur der Neugier und des Lernens rund um das Thema Behinderung fördern

T.Z: Mit einem Wort: Zuhören. Auch wenn ich mir immer wieder Mühe gebe, ein Angebot möglichst inklusiv zu gestalten, vergesse ich doch jedes Mal mit Sicherheit etwas. Die Einsicht, dass ich nicht alle Bedürfnisse erahnen kann und muss, entlastet mich, macht mich aber auch demütig. Wenn dann noch der Wille da ist, Veränderungen wirklich umzusetzen, werden viele feststellen, dass es für mehr Inklusion manchmal gar nicht so viel braucht.

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz, die Teil ist der weltweiten United Methodist Church, und betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Als freie Autorin schreibt sie unter anderem bei «RefLab» rund um die Theologie der Behinderung und ihre Erfahrungen damit.

Jonathan Verwer kommt aus England, ist in den USA aufgewachsen und lebt seit zwölf Jahren mit seiner Frau und drei Kindern in der Schweiz. Zurzeit arbeitet er Teilzeit als Pastor für Jugend und Kinder und studiert Theologie und Behinderung (MTh) an der Universität Aberdeen. In der Freizeit betreut er seinen Sohn, der eine traumatische Hirnschädigung erlitten hat, und ist gerne mit seinem Vintage-Rennrad oder in den Bergen unterwegs.

Tobias Zehnder ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Münchenbuchsee-Moosseedorf. Selbst im Autistischen Spektrum, forscht er ausserdem an der Universität Bern zum Verhältnis von Theologie und Autismus.