Inklusion ist nicht nur ein gesellschaftliches Thema, sondern auch eines innerhalb der Theologie und Kirche. Auch wenn wir in den biblischen Texten noch kein ausgereiftes Verständnis von Inklusion im heutigen Sinn finden, sind die Bezüge augenfällig. Wie lässt sich Inklusion theologisch begründen? Was folgt daraus für das Gottes- und Menschenbild sowie die Vorstellung von christlicher Gemeinschaft und Kirche?
Inklusion wird einerseits als Herausforderung und Anfrage «von aussen»[1], von der Gesellschaft an Theologie und Kirche herangetragen. Inklusion lässt sich aber nicht nur als moderne gesellschaftliche Forderung begreifen, sondern auch als «ureigenes Thema»[2] der Christenheit, Theologie und Kirche. Selbstverständlich kennt die biblische Tradition noch kein ausgereiftes Konzept von Inklusion und menschenrechtsbasiertem Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit im heutigen Sinn. Nicht verschwiegen werden darf weiter, dass es in Theologie und Kirche ausgrenzende Tendenzen und Begründungszusammenhänge gab, die teilweise bis heute nicht aufgearbeitet sind und/oder undifferenziert überdauern. Inklusion fordert Theologie und Kirche demnach gleichermassen von innen heraus, Vorannahmen und Haltungen bzw. Bibelverständnisse und die daraus abgeleiteten theologischen und praktisch-kirchlichen Schlussfolgerungen zu reflektieren.
Inklusion lässt sich theologisch bereits von der Dreieinigkeit Gottes her andenken, und zwar an der geheimnisvollen Einheit in Verschiedenheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist.[3] Der deutsche Theologe und Inklusionsexperte Ulf Liedke beschreibt es so: «Gott existiert in der wechselseitigen Beziehung seiner drei Seinsweisen so, dass sich Vater, Sohn und Heiliger Geist in der Verschiedenheit gegenüberstehen und zugleich eine Gemeinschaft bilden. Im trinitarischen Sein Gottes ist Exklusion ausgeschlossen.»[4] Schon im Alten Testament steht Gott selbst auf der Seite der Ausgegrenzten und Schwachen und stellt sich gegen die Ungerechtigkeit.[5]
Entsprechend äussert sich das eschatologische Heil Gottes in der gesamtbiblischen Betrachtung insbesondere in Form von wiederhergestellter universaler Gerechtigkeit sowie der endgültigen Beseitigung allen Leids und des Todes.[6] In der Person Jesus unterstreicht Gott seine «inklusive Mission». Er sucht, was oder wer verloren ist, und bezieht sie oder ihn wieder in die Gemeinschaft mit ihm ein. Jesus hat Reinheitsgebote und andere religiöse Vorschriften übertreten bzw. deren pointierte Interpretation missachtet, um besonders verletzliche, stigmatisierte, benachteiligte und ausgegrenzte Personen in die Gemeinschaft mit Gott einzuladen.
Auch der Mensch wird bereits in biblischen Texten inklusiv gedacht. So verschieden die Menschen sind, tragen doch alle Gottes Ebenbild in sich und sind zur Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer und den anderen Geschöpfen bestimmt.[7] Alle Menschen sind in ihrer Verschiedenheit einzigartig, voraussetzungslos von Gott geliebt, gleichwertig und gleichberechtigt.
Mit solchen allgemeinen Aussagen zur Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen lassen sich beispielsweise körperliche oder seelische Grenzen und damit auch Menschen mit Beeinträchtigung theologisch grundsätzlich als Ausdruck der generellen menschlichen Vielfalt und irdischen Realität verstehen.
Eine einseitige Glorifizierung des menschlichen Leidens und insbesondere desjenigen der Christen («Leidenstheologie») ist in diesem Licht kritisch zu reflektieren und entsprechend zu differenzieren. Dasselbe gilt für verengte Heilungslehren, die Leiden, Krankheit, Beeinträchtigung nur defizitär und aufgrund einer stark spiritualisierten Argumentation als Mangel geistlicher Reife oder gar als Strafe Gottes für persönliche Sünde und Fehlverhalten deuten. Diese begreifen rasche und vollständige Überwindung der Umstände als die einzig richtige Lösung für Christen und suchen bei ausbleibender Heilung die Ursache vor allem im fehlenden Gottesglauben und dergleichen.
Die Gemeinschaft der Gläubigen ist inklusiv
Es erstaunt aufgrund des bisher Gesagten nicht, dass auch das Miteinander der Christen in der Kirche und die christliche Gemeinschaft (griechisch «Koinonia») mit pointiert inklusiven Worten beschrieben werden. Besonders deutlich wird dies beim bildhaften Vergleich des Apostels Paulus zwischen der Funktionsweise des menschlichen Körpers und der Gemeinschaft der Christen: « (…) vielmehr soll es das gemeinsame Anliegen aller Teile sein, füreinander zu sorgen. Wenn ein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit, und wenn ein Teil geehrt wird, ist das auch für alle anderen ein Anlass zur Freude.»[8]
Dass Menschen grundsätzlich verschieden sind, ist theologisch betrachtet eine gegebene und sinnvolle, bereichernde und mitunter nötige Ergänzung, auch wenn das Miteinander dadurch herausgefordert werden kann.[9] Christliche Gemeinschaft ist demnach als dynamische Einheit in aller Vielfalt und Verschiedenheit ihrer einzelnen Glieder zu verstehen.
Dass sich Gott den Menschen in Jesus barmherzig und liebevoll zuwendet, sie bedingungslos annimmt und sich ganzheitlich um ihr Wohl kümmert, ist für den christlichen Lebensstil richtungsweisend. Auf dieser Grundlage waren bereits die ersten Christen innerhalb und ausserhalb ihrer Gemeinschaften auf einen gerechten materiellen Ausgleich und barmherzige Solidarität bedacht.[10] Doch schon in biblischer Zeitrechnung war diese vielfältige Koinonia verschiedentlich herausgefordert und gefährdet, zum Beispiel durch fehlende Rücksichtnahme, ausufernden Egoismus oder mangelnde Integrität.[11]
Einige der gesellschaftlich etablierten Modelle zu Inklusion erscheinen theologisch stimmig und kirchlich anschlussfähig. Neben der Vorstellung einer auf das Wohl ihre Mitglieder bedachten Gemeinschaft zählen beispielsweise «Empowerment» (Ermächtigung, Befähigung) oder «Enabling Community» (befähigende Gemeinschaft) dazu. Zu Recht nehmen Kirchen an diesen Errungenschaften Anleihen für die kirchliche und sozialdiakonische Praxis.
Dieser Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Konzept zum Lehrmittelprojekt «Zmitztdrin» (www.zmitztdrin.ch) des Vereins «Glaube und Behinderung» (www.gub.ch) und des Instituts Inklusiv (www.institutinklusiv.ch), 2022, 7-11.
[1] Schweiker, Wolfhard: Aktuelle Herausforderung für Theologie und Kirche: Inklusion. Deutsches Pfarrerblatt 6/2011, 2.
[2] Schweiker, 2011, 2.
[3] vgl. Mt 28,19.
[4] Liedke, Ulf: Inklusion in theologischer Perspektive, in Liedke, Ulf / Kunz, Ralph (Hrsg.): Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde. 2013, Vandenhoeck & Ruprecht, 34.
[5] vgl. z.B. Ps 109,31; 3 Mose 19,14.
[6] vgl. Offb 21,4.
[7] vgl. 1 Mose 1, 26-27.
[8] 1 Kor 12,12.25-26.
[9] vgl. 1 Kor 12,12-27; Eph 4,7-16.
[10] vgl. Apg 2,44-45.
[11] vgl. Apg 5,1-11; Röm 14,1-23; 1 Kor 11,17-34.

Oliver Merz ist promovierter Theologe, Gründer und Leiter des Institut Inklusiv (www.institutinklusiv.ch) sowie Seelsorger in der Beratungsstelle Sela (www.sela.ch). Zudem wirkt er als Gastdozent, Referent und Autor. Er wohnt mit seiner Familie in Thun. www.oliver-merz.ch.