In Henry Dunants Sinn und Geist

Auf einer Zeitreise zu den Beweggründen und in die Anfänge der Evangelischen Allianz teilt der ehemalige SEA-Generalsekretär Hansjörg Leutwyler seine «Allianz»-Gedanken – verpackt in leidenschaftliche, wenn auch fiktive Worte Henry Dunants.

Ich war schockiert
1838 nach Christus in Paris: Ich war schockiert, wäre am liebsten davongerannt. Meine Geschwister ebenso. Warum nur hatten uns unsere Eltern zu diesen Menschen gebracht? Zu diesen Gefangenen? Zerlumpt und ausgemergelt, angekettet, stinkend standen, sassen und lagen sie da. Ihre Augen tot, ohne Ausdruck, ohne Hoffnung. Allesamt starrten sie in die Leere. Was wir wollten, interessierte keinen. Wenigstens anfangs nicht. Die Männer schienen uns kaum wahrzunehmen – bis uns unsere Mutter befahl, Suppe zu schöpfen. Während sie ein Becken vorbereitete, um den Gefangenen eine Wäsche zu ermöglichen, stellte Vater Verbandzeug bereit, um die von den Ketten verursachten und eiternden Schürfwunden zu verbinden.

Erstaunen machte sich unter den Gebundenen breit. Ein Funke der Hoffnung? Alle schienen sich zu fragen: Warum kommen diese Eltern mit ihren Kindern zu uns? Unsere Gegenwart liess Erinnerungen wach werden. Manch einem stiegen Tränen in die Augen. Sophie-Anne, Daniel und ich waren froh, Essen austeilen zu können. Marie und Pierre-Louis waren zu klein, um zu helfen, zu jung auch, um das Elend zu sehen, zu begreifen. Unbekümmert begegneten sie den Gefangenen, stellten Fragen, berührten die Leidenden, versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, lachten. Das berührte die Ausgestossenen. Ich sah ihre fragenden Augen: «Engel»? Dann sprach Mutter – oder war es Vater? – von Liebe und Vergebung und dem blutgetränkten roten Kreuz, an dem Jesus starb. Auch für sie. Es ging mir nahe, mir, dem Zehnjährigen. Es waren Augenblicke der Hoffnung in einer Umgebung der Trostlosigkeit.

Ich bin bewegt
1852 nach Christus in Genf: Ich bin bewegt. Vor einigen Jahr haben wir – eine Reihe Jugendlicher und ich – mit einer Donnerstag-Vereinigung begonnen. Noch immer stossen weitere junge Frauen und Männer dazu. Wir wollen uns, wie bisher, gemeinsam für die Armen einsetzen. Aber wir sehen uns auch als Bedürftige, Hungrige, Durstige. Wir wollen uns berühren lassen von Gottes Wort, von Jesus, im Miteinander, über Kirchengrenzen hinweg, im Gebet. Nachdem wir zuvor die Gesellschaft für Almosenspenden gegründet hatten, merkten wir, uns fehlt etwas: ein geistliches Miteinander.

Ich erinnere mich zurück an den Besuch in Paris. Als Familie waren wir den Gefangenen ein Lichtblick in ihrem düsteren Alltag. Unbewusst hatten wir alle einen Anteil daran, jedes mit seiner Art, seiner Persönlichkeit, seinen Möglichkeiten. Es war wohl dies, was die Eltern bewegte, uns Kinder mitzunehmen, was sie dazu trieb, uns diesen so unsäglichen Nöten auszusetzen. Unsere Hilfe und unser Sein waren den Gefangenen ein Hoffnungsschimmer für das Jetzt. Die Gottesworte gaben ihnen eine Zukunftshoffnung.

Soziales Engagement und Christsein gehören zusammen – sind im Miteinander effektiv. Und das Christsein ist nicht Kirchenzugehörigkeit, nein, Christsein ist Familie in ihrer Unterschiedlichkeit, ist sozial engagiert Leben unter Gottes Führung und seiner elterlichen Gegenwart. Wo ein Miteinander ist, da ist auch Kirche, da ist Familie. Mit oder ohne Institution. Über Konfessions- und Kirchengrenzen hinweg. Gemeinsam. So wie es Jesus kurz vor seinem Tod in seinem Gebet zum Vater ausgedrückt hat: Lass sie alle eins sein!

Natürlich, wir Jungen sind nicht die Einzigen, die so denken. Es scheint die gottgegebene Zeit zu sein, in der es vielen Christen weltweit in den so unterschiedlichen Denominationen ähnlich ergeht: Sie sehnen sich nach Gottes Nähe – und nach einem «Eins Sein» seiner Nachfolger. Ein «Eins-Sein», das ansteckt, das den Menschen, die nach Gott suchen, Anstoss gibt, selber zu glauben.

Dass ich bei der Gründung der Evangelischen Allianz in England und vor fünf Jahren dann noch in der Schweiz mitprägend dabei sein durfte, war für mich ein Privileg und die nun beginnende Aufgabe als Leiter des Schweizer Zweiges ist eine grosse Freude. Ich bin von diesem neuen Geist des Miteinanders begeistert. Es sind aufregende Tage und Jahre, in denen ich leben darf, eine bewegende Zeit in Gottes Gegenwart. Wohl ähnlich der Zeit von Pfingsten, als der Heilige Geist die Jünger erfasste, in Jerusalem Tausende zum Glauben an Jesus kamen, wo Arm und Reich gemeinsam Leben teilten.

Ich kann noch beten
1901 nach Christus in Heiden: Ich kann nur noch beten – und danken. Herr, ist die Zeit, in der du mich in dein Wirken mit einbeziehst, vorüber? Der finanzielle Ruin hat mich vor bald einem halben Jahrhundert dazu getrieben, den Kaiser aufzusuchen. Ihn um politische Hilfe für mein Unternehmen in Algerien zu bitten. Ohne meine unternehmerischen Schwierigkeiten wäre ich dem grenzenlosen Leid in Solverino nie begegnet. Im Nachhinein sehe ich deine Hand darin. Du hast aus desolaten Situationen Neues geschaffen, hast sie gebraucht, um mich auf Lösungsansätze zur Pflege von verwundeten Kriegsopfern zu bringen. Dass daraus das Internationale Rote Kreuz entstehen würde: Wer hätte das gedacht! Du hast mir viel zugemutet, Herr. Schweres und Schreckliches. Armut, Leiden, Kriegselend – auch den finanziellen Ruin und den persönlichen Zerbruch. Trotzdem: Danke. Der soeben erhaltene Friedensnobelpreis müsste dir gehören, nicht mir. Dir, Jesus. Du bist der Friedefürst. Das rote Kreuz auf weissem Grund soll reflektieren, was du für uns getan hast.

Über ein Jahrhundert später
2022 nach Christus in Lenzburg: Die obige Zeitreise ist Henry Dunant in den Mund gelegt. Nirgends hat er solches gesagt. Nur, es ist in etwa das, was ich über Dunant und seinem «Allianz-Denken» empfand, als ich kurz vor der Jahrtausendwende das Amt des Sekretärs der Schweizerischen Evangelischen Allianz übernehmen und für 13 Jahre innehaben durfte: Evangelische Allianz ist ein Miteinander von Christen über institutionelle Grenzen hinaus, geprägt vom Evangelium, bereit, sich in die drängenden Themen der Welt einzugeben: lokal, national, weltweit.

Herr, gib uns immer wieder Gnade, eins zu sein!

Autor: Hansjörg Leutwyler

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