Frieden – Versöhnung – Wiederherstellung: Annäherungen an schillernde Begriffe

Kirchen und Theologie sind angesichts der gegenwärtigen Kriegs- und Konfliktherde herausgefordert, ihre spezifisch christlichen Perspektiven auf Frieden, Versöhnung und Wiederherstellung zu reflektieren. Von humanwissenschaftlichen Konzepten unterscheiden sie sich etwa in der Rolle, die sie dem Menschen für die «Herstellung» von Frieden und Versöhnung zuweisen.

Der christliche Glaube ist seit seinen Ursprüngen verbunden mit sozialer Friedens- und Versöhnungspraxis. Die Botschaft der Versöhnung und der Glaube an den Frieden Gottes waren nie nur innere Überzeugung, sie waren auch äusserer Lebensvollzug. Was dabei aber christliche Friedens- und Versöhnungspraxis genau umfasst und welches Orientierungswissen vom Evangelium ausgeht, ist bis heute strittig. Theologie und Kirchen stehen deshalb gegenwärtig unter anderem im Gespräch mit der Friedens- und Versöhnungsforschung, um angesichts der multiplen, miteinander verwobenen Kriegs- und Konfliktherde des 21. Jahrhunderts christliche Friedens- und Versöhnungskonzeptionen auszuloten.

Humanwissenschaftliche Disziplinen wie die «Konflikt- und Friedensforschung», die «Transitional-Justice Forschung» oder auch die «Versöhnungsforschung» setzen dabei ganz eigene Akzente im Blick auf die Frage der Verwirklichung eines nachhaltigen Friedens und der Wiederherstellung von Beziehung. Im Bereich der Friedensforschung etwa kann «Frieden» nicht nur «eng» als Abwesenheit von personaler Gewalt, sondern auch «weit» als Abwesenheit von struktureller Gewalt gefasst werden. Es werden unter anderem Fragen nach Kriterien des verantwortbaren Gewaltgebrauchs in Grenzsituationen, der Rolle des internationalen Rechts und internationaler Organisationen für die Gewaltbeendigung und Friedensstiftung, der Rolle demokratischer Strukturen sowie der Wichtigkeit ziviler Konfliktbearbeitung behandelt.

Die Versöhnungsforschung wiederum legt einen stärkeren Fokus auf den Beziehungsaspekt und damit emotionale und kognitive Faktoren für Konfliktprävention, -transformation und -lösung. Dabei ist auch die Frage nach strukturellen und überindividuellen Bedingungen integrativer Bestandteil der Konzepte. Friede kann nur nachhaltig sein, wenn Konflikte an der Wurzel bearbeitet werden; Friede soll demnach durch Versöhnung qualifiziert sein und im besten Fall zur Wiederherstellung der Beziehungen aller Konfliktbeteiligten führen, so die Grundthese der Ansätze.

Erneuerung und Neuschaffung

Interessant ist nun, dass der Begriff der «Wiederherstellung» in beiden Diskursfeldern eine wichtige Rolle einnimmt: im Friedensdiskurs im Hinblick auf die Wiederherstellung eines gewaltfreien und wenn möglich strukturell friedensfördernden Zustandes, im Versöhnungsdiskurs im Hinblick auf die Wiederherstellung normaler und, wenn möglich, guter Beziehungen der im Konflikt beteiligten Individuen und Gruppen. In beiden Diskursen ist auch die Schreibweise «(Wieder-)Herstellung» vorfindbar. Denn beim Begriff der Wiederherstellung handelt es sich nicht um ein nostalgisches Zurücksehnen nach dem «status quo ante», dem Zustand vor dem Konflikt. Vielmehr können begrifflich und konzeptionell auch Momente der Erneuerung und Neuschaffung enthalten sein. Ob der Begriff der «(Wieder-)Herstellung» jedoch tatsächlich das Potenzial besitzt, zu einem Leitbegriff der Friedens- und Versöhnungsforschung zu avancieren, etwa weil er weniger stark besetzt ist und stereotypisiert wird als die «grossen» Begriffe Friede und Versöhnung, wäre eingehender zu diskutieren.

Gott ist Stifter, der Mensch Wegbereiter des Friedens

Vor dem Hintergrund dieser humanwissenschaftlichen Landschaft stehen Theologie und Kirchen vor der Herausforderung, ihre spezifisch christlichen Perspektiven auf Frieden, Versöhnung und Wiederherstellung zu reflektieren. Primäre Kraft- und Orientierungsquelle für die soziale Praxis ist dabei die Botschaft von Gottes Frieden und Versöhnung für seine und mit seiner Welt. Mit Blick auf Gottes Friedens- und Versöhnungshandeln bezeugen Glaubende eine bereits in Christus angebrochene, den ganzen Kosmos umfassende[1], ungerechte Verhältnisse aufhebende[2] und Beziehungen zurechtbringende Wirklichkeit[3], welche die Welt bleibend transformiert.

Schon hier zeigen sich grundlegende Differenzen zum nicht-theologischen Verständnis von Frieden und Versöhnung: Frieden und Versöhnung werden nicht «hergestellt», sondern sie wurden und werden von Gott gestiftet. Christliches Wiederherstellungshandeln bezieht seine Kraft aus einer bereits wiederhergestellten, versöhnten Wirklichkeit, welche die gebrochene Weltwirklichkeit bleibend umfasst und sie schöpferisch begleitet. Das heisst zugleich: Der Mensch ist zu Friedens- und Versöhnungshandeln aufgerufen, aber stets darin begrenzt. Er kann, um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, Frieden und Versöhnung den Weg bereiten, aber Frieden und Versöhnung nicht eigenständig und vollumfassend realisieren. Dem allzu menschlichen Phänomen, sich als Hervorbringer und letzten Garanten des Friedens aufzuführen, wird somit eine Absage erteilt.

Unterschiedliche Entscheide wertschätzen

Das biblische ganzheitliche Friedens- und Versöhnungsverständnis deckt sich zugleich stark mit «weiten» Friedens- und Versöhnungskonzepten der Humanwissenschaften. Es setzt nicht allein auf die Abwesenheit von Gewalt, sondern auch (wenn möglich) auf die Schaffung nachhaltiger, auf Menschenwürde basierender gesellschaftlicher und internationaler Strukturen sowie die Ermöglichung von Versöhnungsräumen. Nicht zuletzt das kirchliche Leitbild des «gerechten Friedens» bezeugt dieses weite Friedens- und Versöhnungsverständnis.

In Theologie und Kirche herrscht Konsens im Blick auf die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit und die Ächtung des Krieges. Nicht zuletzt die Geschehnisse in der Ukraine stellen aber die Frage nach der Verantwortbarkeit von Gewaltanwendung als Ultima Ratio und zur Selbst- und Bündnisverteidigung wieder in den Vordergrund und rufen Differenzen hervor. Die Pluralität christlicher Friedensethik und mit ihr die prinzipielle Möglichkeit divergierender Gewissensentscheidungen und Abwägungen in dieser Sache sollte dabei ernst genommen und wertgeschätzt werden. Sie zeugt vom lebendigen Ringen einer unter dem Dach des Evangeliums stehenden Gemeinschaft, in der die Schuldhaftigkeit menschlichen Handelns sensibel reflektiert und vor und mit Gott ausgetragen wird.

Autor: Dr. Maximilian Schell

[1] vgl. Kol 1,19f.; 1 Joh 2,2.

[2] vgl. Ps 85,11.

[3] vgl. 2 Kor 5,19.

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