«Es gibt keine falschen Fragen»

Kein Sonderstatus – transparente gegenseitige Kommunikation – sich mehr einbringen können: Mit diesen und anderen Aussagen beschreiben vier Personen mit einer Behinderung, wann und warum sie sich als Teil der Gemeinschaft erleben. Sie berichten aus ihrer persönlichen Sicht und Erfahrung, was sie sich in Begegnungen im Alltag und in der Kirche wünschen, was sie brauchen – und was nicht.

Fragen stellen statt Annahmen treffen

Ich lebe seit Geburt mit einer Cerebralparese und bin daher mehrheitlich mit dem Rollstuhl unterwegs. Für mich bedeutet Teilhabe, wenn ich in einer Gruppe keinen «Sonderstatus» erfahre. Das heisst, dass es primär nicht wichtig ist, dass ich im Rollstuhl sitze, und es nicht direkt zu Beginn heisst: «Oh, das geht nicht.» Stattdessen liegt der Fokus darauf, zusammen etwas zu erleben oder zu erarbeiten. Dabei wird es selbstverständlich Dinge geben, die aufgrund der Behinderung etwas angepasst werden müssen. Doch wenn es einfach dazu gehört, das gewisse Punkte berücksichtigt werden, fühle ich mich inkludiert.

Mitleid zu haben, ist falsch. Besser ist, proaktiv auf Menschen mit Behinderungen zuzugehen und zu fragen, ob sie Unterstützung benötigen. Wenn ich zum Beispiel vor dem Eingang meiner Kirche stehe, bin ich dankbar, wenn mir jemand die etwas steile Rampe ins Foyer hoch hilft. Im Gottesdienst und auch im Kirchencafé bin ich gerne unter den Leuten, daher finde ich es super, wenn im Saal bei einer Stuhlreihe ein Stuhl rausgenommen wird und ich mit dem Rollstuhl dorthin fahren kann. Ebenfalls ist es sehr willkommen, wenn es im anschliessenden Café auch tiefe Tische hat.

Treffen wir keine Annahmen, ohne zu fragen. Es gibt meiner Meinung nach keine falschen Fragen. Wenn immer wieder gegenseitig kommuniziert wird, was die Bedürfnisse sind und diese auch ernst genommen werden, gehen wir auf einem richtigen Weg.

Ronny Häberli
wohnt in Winterthur und ist als Kursleiter im Bereich Bildung & Sensibilisierung tätig.

Menschen so akzeptieren, wie sie sind

Ich bin von Geburt an mit meiner Familie Teil einer kleinen Freikirche in der Region Winterthur. Ich war von Anfang an dabei, auch im Kinderprogramm. Als Kind war ich aufgrund meiner Spina Bifida (angeborene Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks) und den damit verbundenen Operationen viel im Rollstuhl unterwegs. So kam es öfter vor, dass ich wegen fehlendem Lift die Treppen auf dem Hosenboden hoch- und hinuntergerutscht bin. Bei Ausflügen nahm man Rücksicht auf mich und nahm mich mit, wo immer es ging. Heute helfe ich in der Gemeinde im Lobpreisteam und auch in der Kinderhüte mit. In meiner Gemeinde nimmt man mich, wie ich bin, und ich erhalte wo nötig Unterstützung.

Wenn ich jedoch in christlichen Kreisen unterwegs bin, wo man mich nicht kennt, zum Beispiel an einem PraiseCamp, werde ich immer wieder angesprochen und gefragt, ob man für mich bzw. für Heilung beten darf. Das nervt mich und ich reagiere unterschiedlich. Wenn ich nein sage, wird nicht selten nachgehakt: «Glaubst du denn nicht, dass Gott heilen kann?» Ich frage mich dann jeweils, ob es um Gott geht, der heilen kann, oder um die Person, die mit mir beten will. Ich möchte einfach, dass man mich so akzeptiert, wie ich bin. Man kann keine vertrauensvolle Beziehung aufbauen, wenn man den andern nicht akzeptiert, wie er ist.

Lynn Richner
arbeitet in der Kinderbetreuung und Bürologistik und ist seit Kind Mitglied in einer familiären Freikirche.

Heilung nicht auf Wunder begrenzen

In jungen Jahren war ich sportlich und mit Menschen unterwegs. Mit 26 Jahren eröffnete mir mein Augenarzt, dass ich Zapfendystrophie, eine genetische Erkrankung, habe. Die Sehschärfe in beiden Augen bildet sich im Zentrum zurück bis zur vollständigen Erblindung.

Ich hoffte lange darauf, dass Gott mich heilen wird. Aber alle Bemühungen und Gebete von mir und den Menschen um mich herum führten nicht zu einem Heilungswunder. Nach einiger Zeit begann ich allmählich zu erkennen, dass ich auch mit meiner Behinderung geliebt und wertvoll bin. Heilung begrenzt sich nicht auf Wunder. Heilung kommt dort zum Tragen, wo Bedürftiges gehalten wird, wo Zerbrochenes angenommen wird. Das ist heilsamer als körperliche Heilung.

Heute bin ich zu 45 Prozent als Pastor in einer Freikirche tätig und arbeite daneben als selbstständiger Coach. Bei meinem Anstellungsgespräch war es mir wichtig, klar zu sagen, was ich (noch) kann und was ich nicht kann. Transparente gegenseitige Kommunikation ist wichtig, damit die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gemeinde funktionieren kann. Und trotzdem glaube ich, dass wir als christliche Gemeinschaft uns noch nicht wirklich mit der Frage auseinandergesetzt haben, was es denn braucht, dass Menschen mit Behinderungen sich in der Kirche angenommen und wohlfühlen können.

Mathias Wüthrich
ist Pastor in einer Freikirche, Coach, verheiratet und Vater von zwei Kindern.

Die Fähigkeiten der anderen entdecken

Ich wohne in Bern in einer Institution für Menschen mit leichten kognitiven und körperlichen Behinderungen und arbeite auf einem biologischen Bauernhof in der Küche.

Der Glaube bedeutet mir sehr viel. Meine Lieblingsgeschichte aus der Bibel ist die Geschichte von Ruth und Naomi. Ich liebe diese Geschichte, weil es dort um eine tiefe Freundschaft geht. Zusammen mit meinen Eltern bin ich in der reformierten Kirche dabei. Ich würde mich dort gerne mehr einbringen. Aber leider wurden meine Fähigkeiten noch nicht so ganz entdeckt. Ich koche gerne, kann singen und auch Gebete sprechen. Für junge Leute wie mich ist es schwierig, in eine Gemeinschaft in der Kirche reinzukommen. Ich fände es toll, wenn ich in einer Art Gesprächskreis dabei sein könnte. So würde man sich besser kennen lernen und die Fähigkeiten der anderen erkennen.

Seit Kurzem bin ich in einer Fachkommission der kantonalen Kirche. Diese Kommission soll helfen, dass erwachsene Menschen mit kognitiver Behinderung einen besseren Zugang zu kirchlichen Angeboten erhalten. Ich darf dort meine Sicht als Bewohnerin einer Institution einbringen. Meine Erwartung ist nicht, dass man für mich etwas Besonderes auf die Beine stellt. Ich möchte einfach an den Angeboten der Kirche teilnehmen und mich einbringen können.

Kathrin Walther
arbeitet als Köchin bei einem grossen Bauernbetrieb und ist Mitglied einer reformierten Landeskirche.