Eine Stimme, die Echos auslöst

Viele Kirchen aus dem SEA-Netzwerk engagieren sich derzeit für Geflüchtete aus der Ukraine.


In den vergangenen Jahrzehnten wurde die SEA oft auch als «Stimme von evangelischen Christen in der Gesellschaft» gesehen. Das ist eine richtige Beobachtung. Gleichzeitig müssen wir aber kritisch fragen: Hat diese Stimme etwas bewegt? Und wird die SEA dem Selbstanspruch, die «Gesellschaft verändern» zu können, gerecht? SEA-Generalsekretär Marc Jost trägt zusammen, was er an Einflussnahme in den letzten 30 Jahren feststellen konnte.

Bereits 1990 wurde das Gütesiegel Ehrenkodex ins Leben gerufen. Damit wird heute – verantwortet durch eine Stiftung – «Good Governance» in christlichen NPOs gefördert. Das Zertifikat ist nicht nur eine wertvolle Ergänzung auf dem Spendenmarkt, sondern fördert christliche Organisationen in ihrer Weiterentwicklung und macht sie fit für die Ansprüche der heutigen Zeit.

Mit der Kampagne StopArmut wurde aus SEA-Kreisen im Jahr 2004 der Fokus mit der Gesamtgesellschaft auf die Milleniums-Entwicklungsziele der UNO gerichtet. Und dass heute auch in Kirchen die Nachhaltigen Entwicklungsziele («Sustainable Development Goals» SDGs) ein Begriff sind, die zum Beispiel die Missionsarbeit beeinflussen, ist StopArmut zu verdanken. Fünf Jahre später entstand daraus der Verband Interaction, der heute Partner der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) ist und globale Programme mit dem Bund in der Entwicklungszusammenarbeit umsetzt (siehe Seite 22).

Bundesbehörden haben die SEA immer wieder auch als originellen Akteur erfahren. Mit dem Slogan «Treue ist der beste Gummi» wurde im Jahr 2005 beispielsweise eine «STOP AIDS»-Kampagne ergänzt, um nicht zu sagen: kritisiert.

Mit «Christian Public Affairs» gründete die SEA 2019 mit Partnern erstmals eine Lobbyorganisation in Bundesbern. Dies wurde provoziert durch den Entzug von Fördergeldern des Bundes an evangelische Jugendverbände. Auf die Rückgewinnung derselben sollten weitere Lobbying-Erfolge folgen. Heute steht eine gut vernetzte Dienstleistung für politische Anliegen aus dem Allianz-Netzwerk in Bundesbern zur Verfügung.

Starker Einsatz für Religionsfreiheit
Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte sticht das Engagement für Religionsfreiheit am stärksten heraus, was den Einfluss von SEA-Werken betrifft. Es gibt nicht nur seit vielen Jahren eine feste parlamentarische Gruppe, die – angestossen durch die SEA – immer wieder Einfluss auf andere Staaten nimmt. Die SEA-Arbeitsgemeinschaft für Religionsfreiheit hat auch ermöglicht, dass die Weltweite Evangelische Allianz akkreditierte NGO am UNO-Menschenrechtsrat in Genf werden konnte. Dort erhebt sie regelmässig die Stimme und erinnert Nationen an ihre Verantwortung für religiöse Minderheiten und eben auch verfolgte Christen.

Diese Arbeitsgemeinschaft hat zudem die Beratungsstelle für Integrations- und Religionsfragen (BIR) gegründet. Die BIR unterstützt heute mit acht Mitarbeitenden religiös Verfolgte und Kirchen, die Asylsuchende begleiten. Sie konnte bereits in etlichen Fällen wesentlich dazu beitragen, dass Notleidende ein humanitäres Visum oder Schutz in der Schweiz erhielten. Eindrückliches Beispiel sind vier mit Gefängnisstrafen verurteilte Teenager aus Ägypten, die via Istanbul in die Schweiz geholt und so ihrer Verurteilung wegen angeblicher Gotteslästerung entzogen werden konnten.

Flüchtlingskonferenz beeindruckt Staatssekretär
2015 in der letzten grossen Flüchtlingskrise Europas leistete die SEA grosse Koordinationsarbeit mit einer Taskforce und als Pionierin bei der Platzierung von Flüchtlingen in Privathaushalten. Ausdruck der grossen Wirkung auf die Gesellschaft war nicht zuletzt die StopArmut-Konferenz 2016 mit über 800 Teilnehmenden, die selbst Staatssekretär Mario Gattiker tief beeindruckte. An diese Erfahrungen kann die SEA anknüpfen, nachdem der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist und wiederum Zehntausende in die Schweiz flüchten. Mit Koordinations- und Informationsarbeit kann sie wiederum auf das starke Netzwerk bauen und sowohl in der Schweiz als auch in der Ukraine und den Nachbarländern hilfreiche Initiativen und Projekte unterstützen. So stellt die SEA beispielsweise den Wissensaustausch zwischen dem Pionierprojekt «Kirchen-helfen.ch» und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sicher.

Nie dagewesene Medienpräsenz
Die Volksabstimmung, welche der SEA zur grössten Medienpräsenz ihres Bestehens verhalf, war jene zur «Ehe für alle». Nach der Unterstützung des Referendums war die Präsenz während der Abstimmungszeit phänomenal. Ob Fernsehen, Radio oder Zeitung, ob News-, Debatten- oder Hintergrundformate – die SEA war beinahe auf jedem Kanal gefragt. Es war möglich, die Argumente zum Kindeswohl trotz gereizter Atmosphäre ruhig und respektvoll zu kommunizieren, was der Debatte zu mehr Ausgewogenheit verhalf. Die Abstimmung ging zwar verloren, die Stimme der SEA war aber unüberhörbar und die Interessen der Kinder sind in der Öffentlichkeit präsenter. Alledem waren eine jahrelange Auseinandersetzung mit dem Thema Ehe und Familie und mehrere Stellungnahmen im Rahmen der Vernehmlassungen vorausgegangen.

Ausgangspunkt für wichtige Institutionen
Die SEA hat bereits in den 150 Jahren zuvor eine bedeutende, wenn auch manchmal indirekte oder mehr im Hintergrund agierende Rolle gespielt. In Zeiten grosser Spannungen in der Schweiz, als der Generalstreik unser Land prägte und die Spanische Grippe wütete, wurden 1919 aus den Reihen der SEA gleich zwei wichtige Institutionen angeregt und auch gegründet. Zum einen ist dies die Evangelische Volkspartei (EVP) und zum anderen ist es der Freikirchenverband (VFG, heute freikirchen.ch). Die EVP ist aktuell in 19 Kantonen aktiv und hat drei Mitglieder im Nationalrat und 43 in kantonalen Parlamenten. Sie nimmt immer wieder politische Anliegen aus dem Netzwerk der Evangelischen Allianz auf Kantons- und Bundesebene auf. Der Freikirchenverband vertritt die Interessen der nicht anerkannten evangelischen Kirchen in der Deutschschweiz und war wie bei der Gründung auch in den vergangenen zwei Jahren während der Pandemie besonders einflussreich, um die Versammlungsfreiheit für religiöse Veranstaltungen zu gewährleisten.

Angesichts dieses breiten Engagements – und die hier erwähnten Themen sind nur eine Auswahl – darf die SEA durchaus für sich in Anspruch nehmen, in der Gesellschaft etwas zu bewegen. Als «Stimme von evangelischen Christen» in der Öffentlichkeit aufzutreten, setzt immer auch eine eingehende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema und bisweilen Mut zu einer klaren Positionierung voraus.
Autor: Marc Jost