Einander zum Geschenk

Nähe, ganz besonders auch körperliche Nähe, ist entscheidend für ein gelingendes Leben. Und sie ist entscheidend für das Miteinander im kirchlichen Kontext. Denn das Evangelium ist nicht nur eine abstrakte Idee, sondern erfahrbare Lebenswirklichkeit, erfahrbar auch in der Gemeinschaft der Gläubigen. Wie aber können Kirchen Orte sein, an denen Frau und Mann einander als Geschenk und nicht als Bedrohung wahrnehmen?

Ich verbrachte als Jungschärler wunderbare Stunden beim Singen am Lagerfeuer, Biwakieren im Wald und weiteren spannenden Abenteuern. Vor allem aber erinnere ich mich an jene fünf Mädchen und fünf Jungs, mit denen ich in der Jungschar gross wurde. Wir durchlebten gemeinsam die Phasen kindlicher Entwicklung, die Pubertät und die Jugendzeit. Wir waren dicke Freunde – wir lachten, kämpften und feierten zusammen. Und als unser Leiter bei einem tragischen Unfall während eines Jungscharnachmittages ums Leben kam, weinten wir viel zusammen. Ich durfte lernen und erleben, mit Frauen und Männern auf eine respektvolle und doch ungezwungene Art und Weise gemeinsam unterwegs zu sein. Die Freundschaft und Nähe, die ich in der Jungschar erlebte, waren sehr wichtig für meine Entwicklung.

Mit dem Erwachsenwerden realisierte ich nach und nach, dass bei Weitem nicht alle Menschen diese positiven Erfahrungen teilen. Nicht immer werden Menschen, die gemeinsam die Nachfolge Jesu einüben, einander zum Geschenk. Manchmal werden sie füreinander zur Belastung, manchmal gar zur Bedrohung. Missbrauchsskandale und Grenzverletzungen haben in Kirchen und Institutionen grossen Schmerz und Schaden verursacht. Die Thematik hat sich in den vergangenen Jahren zur wohl grössten Vertrauenskrise der Kirche und christlich geprägten Institutionen überhaupt entwickelt. Aber nicht nur das Image der Kirche ist tief erschüttert. Grenzverletzungen haben Beziehungen und das gegenseitige Vertrauen zerrüttet, nicht zuletzt auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen.

Auf dem Weg zu einem heilsamen Miteinander

Wie können Kirchen Orte werden, an denen Frauen und Männer einander als Geschenk und nicht als Bedrohung, Versuchung oder Konkurrenz wahrnehmen? Viele kirchliche Institutionen haben diesbezüglich bereits wertvolle Arbeit geleistet. Die SEA plant nun ein Netzwerk, in dem Kirchen- und Fachverbände einander helfen, das heilsame Miteinander zu fördern und zu pflegen (siehe Kasten unten). Vier wichtige Lehren aus der Projektierung dieses Netzwerks teilen wir im Folgenden:

  1. Eingeständnis: Der Weg zu einem guten Miteinander muss mit einem Eingeständnis beginnen: Auch unter Christen werden Grenzen überschritten. Gerade mit der transzendenten Dimension des Glaubens kommt eine Komponente in die Beziehungsgestaltung, die sich besonders gut für Manipulation und psychische Gewalt eignet («Wenn du nicht tust, was ich will, bist du Gott ungehorsam»). Das Image einer Kirche oder einer Leitungsperson darf nicht über der Integrität von Menschen stehen, die in der Kirche zu Recht einen sicheren Raum für Heilung und Wiederherstellung erwarten. Und besonders wir Männer müssen er- und bekennen, dass häufig Frauen als Spielzeug oder Sexobjekt verachtet und misshandelt wurden. Ihre Gaben und ihre Persönlichkeiten wurden zu wenig geschätzt.[1]
  2. Angstfrei: Angst ist ein schlechter Ratgeber für ein gelingendes Miteinander. Angst führt dazu, dass in Camps auf Spiele mit Körperkontakt verzichtet wird oder Meetings zwischen einem Mann und einer Frau gar nicht mehr stattfinden, da man später keine unberechtigten Vorwürfe riskieren will. Wenn uns tragische Geschichten dazu führen, dass wir kaum mehr einen Umgang miteinander pflegen, haben wir als Kirchen etwas Wesentliches verloren. Wir brauchen eine Einstellung «professioneller Nähe»: Nähe ist wichtig und Nähe ist grundsätzlich gut. Kirche ohne Beziehungsarbeit ist undenkbar. Wir sind daher achtsam, aber ohne Angst. Wir prägen eine Kultur, in der wir uns in echter Bezogenheit begegnen – als «ganze» Menschen mit unseren Gedanken, Emotionen und körperlichen Bedürfnissen.
  3. Geklärt: Haben wir ein Ja zu heilsamer Nähe, können wir aktiv klären und gemeinsam reflektieren, in welcher Rolle welches Mass an Nähe angebracht ist. Aktive Klärung ist nötig, da wir uns in der Beziehungsgestaltung häufig in einem Graubereich befinden. Irritationen lösen Gefühle aus – diese sind jedoch je nach Situation und Person (z.B. geprägt durch eigene Erlebnisse) sehr unterschiedlich. Martin Brüske macht deutlich, dass die Kirche dazu eine Kultur entwickeln muss, in der man sich auf Augenhöhe begegnet.[2] Eine Klärung muss zwar unbedingt von der Kirchenleitung gewollt werden, bedarf aber den freiwilligen Einbezug möglichst aller.
  4. Konkret: Ist geklärt, wie man in einer Kirche, einem Kinderlager oder einem Hilfseinsatz miteinander umgehen will, kann man konkrete Verhaltensstandards definieren. Für das PraiseCamp wurden mögliche Risikosituationen analysiert und die Konsequenzen daraus auf zwei A4-Seiten zusammengefasst.[3] Dieses Dokument wurde von allen Mitarbeitenden unterzeichnet. Während Haltungen bewusst allgemein formuliert werden, wird bei Standards festgehalten, wie man sich in einer konkreten Risikosituation zu verhalten hat. Diese Klarheit schafft einen Raum, in dem man sich ungezwungener begegnen kann.

Wir brauchen einander

Wir werden nur «am anderen» zu uns selber, schreibt Miroslav Volf.[4] Denn die Konstruktion unserer geschlechtlichen Identität läuft in beide Richtungen: von der Frau zum Mann und umgekehrt. Jeder braucht den anderen zur eigenen «Erschaffung». Wenn wir als christliche Kirchen eingestehen, dass auch bei uns Grenzverletzungen geschehen können, wenn wir Nähe als etwas Gutes bejahen und aktiv in die konkrete Klärung investieren, werden wir zum Teil der Lösung. So schaffen wir Raum, in dem Frauen und Männer neu lernen können aufeinander zuzugehen, um selber ganz zu werden.[5]

Autor: Andi Bachmann-Roth

[1] vgl. Stott, John R. W.: Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit… …im sexuellen Bereich. Francke (Edition C D, Das Wort beim Wort genommen, Nr. 13), 1988, 11.

[2] vgl. Schumacher, Ursula (Hrsg.): Abbrüche – Umbrüche – Aufbrüche. Gesellschaftlicher Wandel als Herausforderung für Glaube und Kirche. Aschendorff Verlag (Studia oecumenica Friburgensia, 93), 2019, 152 f.

[3] vgl. https://jugendallianz.ch/projekte/praevention-sexueller-ausbeutung/so-geht-risikomanagement/ (25.10.2021).

[4] vgl. Volf, Miroslav: Von der Ausgrenzung zur Umarmung. Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität. Francke, 2012, 218 ff.

[5] Bereits 2010 definierte die Schweizer Delegation in ihrem Schlussbericht zum Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt den Platz von Mann und Frau in der Kirche als einen von vier Bereichen, in denen weitere Schritte der Versöhnung zu gehen sind.

 

 

Die SEA lanciert das Netzwerk «Gemeinsam gegen Grenzverletzung»

Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) hat gemeinsam mit dem Verband Christliche Institutionen der Sozialen Arbeit CISA ein Konzept erarbeitet, wie christliche Akteure einander in Zukunft helfen können, einen professionellen, achtsamen und offenen Umgang mit grenzverletzendem Verhalten zu entwickeln. Dazu vernetzen wir christliche Fach- und Kirchen-verbände. Die Basis unserer Strategie bilden eine Charta sowie die regelmässig stattfindende Rechenschafts- und Impulskonferenz. Zurzeit finden Sondierungsgespräche mit den Fach- und Kirchenverbänden statt. Die Startkonferenz ist im zweiten Semester 2022 angedacht.