Ein Manuskript im Gepäck des Kardinals

Anthropologie und Ethik sind zu entscheidenden Bruch- und Bekenntnislinien in den Gemeinden geworden. Die «Theologie des Leibes» von Papst Johannes Paul II. bietet eine ökumenische Chance, über solche Fragen mit einem weiten Horizont zu reflektieren. Indem sie Geschlechtsleib und Person als (spannungsvolle) Einheit sieht, weist sie zum Gelingen der Begegnung der Geschlechter und bietet eine biblische Alternative zur anthropologischen Krise der Gegenwart.

Als der Kardinal von Krakau im Oktober 1978 zum zweiten Mal in jenem Jahr nach Rom zur Papstwahlversammlung – dem Konklave – reisen muss, hat er ein fast fertiges Buch im Gepäck. 33 Tage nach seiner Wahl zum Nachfolger Pauls VI. war der Patriarch von Venedig, Albino Luciani (Papst Johannes Paul), einem Herzleiden erlegen. Nach seiner Rückkehr in die Heimat will Karol Kardinal Wojtyla das Manuskript, das er bei sich trägt, in den Druck geben. Es soll Gedanken biblisch entfalten, deren philosophischer Horizont den jungen Philosophen Wojtyla seit den 50er-Jahren beschäftigt und der sich schon in Büchern und Aufsätzen niedergeschlagen hatte. Zur geplanten Buchveröffentlichung wird es nicht kommen. Denn der Erzbischof von Krakau wird von den versammelten Kardinälen am 16. Oktober zum Bischof von Rom, zum Papst, gewählt. Er nennt sich Johannes Paul II.

(K)ein verhindertes Buchprojekt

Sein Buch jedoch verschwindet nicht in der Versenkung. Es verwandelt sich in eine lange Reihe von Katechesen, die fast jeden Mittwoch zwischen 1979 und 1984 auf dem Petersplatz vorgetragen werden. Eine Auslegung biblischer Texte – dicht, anspruchsvoll, ungeheuer konzentriert und konsequent in der Entfaltung des Gedankens. Schon dies ist ein Ereignis. Noch mehr aber wird es das durch das eine und einzige Thema: das ganze Werk Gottes von der Schöpfung bis zur Vollendung durchbuchstabiert von einem Punkt aus, dem menschlichen Leib. Eine «Theologie des Leibes», die sich nicht auf Ethik und Anthropologie beschränkt, sondern vom Leib aus das Ganze in den Blick nimmt: Das ist neu und ungeheuer kühn – ein Wurf.

Päpstliche Theologie für evangelische Christen?

Um die ökumenische Resonanz dieses Wurfs zu spüren, muss man nur das Wort eines Vaters des schwäbischen Pietismus, Friedrich Christoph Oetinger, zitieren: «Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.»[1] Damit ist angezeigt: Es handelt sich um eine neue ökumenische Situation und eine gemeinsame Herausforderung. Zum ersten Punkt sei angedeutet, dass sich in geistlicher Ökumene, die ihren Brennpunkt in der Beziehung zu Jesus als dem lebendigen Herrn hat, evangelische und katholische Christen in der Entdeckung und im Austausch ihrer Gaben begegnen.

Untrennbar von dieser ökumenischen Erfahrung ist die gemeinsam erlebte Herausforderung: Das Bild des Menschen, wie es biblisch bezeugt ist, ist immer weniger Menschen plausibel, ja, die Kultur der Gegenwart zeigt sich ihm gegenüber feindlich und ablehnend. Man sollte dies zunächst nüchtern feststellen, ohne falsche Beschwichtigung – aber auch ohne sofort in einer Haltung blosser Abwehr zu erstarren. Denn in der feindlichen Ablehnung zeigen sich unter der Oberfläche echte Sehnsüchte ebenso wie eine Geschichte von Verletzungen, in der kirchlich verfasstes Christentum in vielen Varianten dem eigenen Anspruch nicht genügt hat. Eine neue Qualität hat diese Auseinandersetzung dadurch bekommen, dass sie sich mittlerweile nicht mehr nur an den Grenzen des kirchlichen Christentums, sondern mitten in unseren Gemeinden findet: Anthropologie und Ethik sind zu entscheidenden Bruch- und Bekenntnislinien geworden. Gerade deshalb brauchen sie besondere Sorgfalt und einen weiten Horizont der Reflexion. Die «Theologie des Leibes» Johannes Pauls II. bietet beides. Darin liegt eine ökumenische Chance.

Natur, Leib und Person

Man kann diese Chance exemplarisch an der Geschlechterfrage und – untrennbar damit verbunden – am Verständnis menschlicher Sexualität festmachen. Im Hintergrund jedoch der Grundentscheidungen, die in diesem Feld fallen, steht die Verhältnisbestimmung zweier Wirklichkeiten, die im ersten Augenblick abstrakt und lebensfern wirken mag und an der doch alles weitere hängt. Das zugehörige Begriffspaar ist aus der klassischen Theologie im Zusammenhang der christologischen und trinitarischen Debatten bekannt und wirkt sich von hier aus in einem langen Prozess auf das Verständnis des Menschen aus. Es handelt sich um das Verhältnis von Natur und Person. Ganz grob gesagt, meint Person den Menschen als Subjekt einer individuellen Freiheitsgeschichte, in der er ganz grundsätzlich mehr ist als blosses Exemplar der Gattung Mensch. Er gehört darin sich selbst und bestimmt sich. Natur – bezogen auf den Menschen – meint den Menschen, insoweit er sich selbst vorgegeben ist. Dies verdichtet sich in der Erfahrung seiner Leiblichkeit. Wir spüren sofort, dass hier Spannung und Bezug zugleich herrschen, dass alles darauf ankommen wird, die Verhältnisbestimmung genau auszuwiegen.

Die These nun, die hier im Licht der «Theologie des Leibes» Johannes Pauls II. vertreten werden soll, lautet: Die anthropologische Krise der Gegenwart resultiert wesentlich aus dem Zerbrechen des Zusammenhangs von Natur und Person. Darin beginnt sich das emanzipatorische, humanisierende Potenzial des jüdisch-christlichen Personbegriffs paradoxerweise im Namen von Emanzipation und Menschenrechten aufzulösen und selbst zu zerstören. Im Zerbrechen des Zusammenhangs von Natur und Person wird es unmöglich, Geschöpflichkeit zu denken. Denn die «Natürlichkeit» der Person zeigt ja an, dass sie sich gegeben und nicht ihr eigener Ursprung ist. In der Auflösung von Natur und Person wird so die erfahrene, Achtung heischende Würde menschlicher Freiheit unter dem Anspruch des unbedingt Guten grundlos. Die Würde steht ihrer materialistischen Bestreitung schutzlos offen. So wankt die anthropologische Diskussion der Gegenwart zwischen Selbstbestimmungspathos und grobem Materialismus hilf- und orientierungslos hin und her. Die anthropologischen Debatten von Gender über LGBTQ bis zum Transhumanismus entscheiden sich an der Verhältnisbestimmung von Natur und Person. Und ihr Fokus ist der menschliche Leib: integrales Moment oder blosses Material der Selbstgestaltung durch Selbstbestimmung.

Die Aufgabe der Integration und der Weg zur Hingabe

Konkretisieren wir das nun im Blick auf Johannes Paul II. und im Blick auf die Frage nach Sexualität und Geschlecht. Seine philosophische Grundposition zu diesem Komplex, wie sie auch im Hintergrund der «Theologie des Leibes» steht, hat der damalige Professor und Weihbischof erstmals in seinem philosophischen Meisterwerk «Liebe und Verantwortung» Anfang der 60er-Jahre ausformuliert. Die zentrale Intuition ist dabei ebenso einfach wie grundlegend, ihre Durchführung von beeindruckender Konsequenz und analytischer Kraft. Sie ist von Kant inspiriert und doch höchst originell durchgeführt: Personen sind selbstzweckliche Wirklichkeiten. Sie sind bestimmt durch Würde, die Anerkennung verlangt. Niemals darf deshalb ihre Begegnung im ein- oder zweiseitigen Gebrauch als blosses Mittel aufgehen (so sehr menschliche Beziehungen legitim auch eine funktionale Dimension haben).

Was bedeutet nun dieses ethische Verbot der Instrumentalisierung, wenn zur Person ganz wesentlich und untrennbar ihre geschlechtlich bestimmte und differenzierte Leiblichkeit dazu gehört, und zwar so, dass sich die Person darin zugleich vor- und ihrer Freiheit aufgegeben ist? In der Dialektik von Vor- und Aufgabe begegnet uns wieder das Begriffspaar von Natur und Person. Und die «Zauberformel» für die Aufgabe der geschlechtlichen Begegnung lautet dann: Integration der Vielschichtigkeit menschlicher Sexualität in die personale Hingabe, in der alle Weisen des blossen Gebrauchs überstiegen sind. Also letztlich: die Integration von Person und fühlendem, begehrendem, nach Mann und Frau differenziertem Geschlechtsleib. Alle dahinter zurückbleibende Fragmentierung ist Gift. Sie bleibt im Gebrauchen stecken und zeigt an, dass hier etwas unheil und verletzt ist. Aber irgendwie finden wir uns wohl alle so vor: Dies weist schon in die Theologie, auf den Menschen nämlich in seiner Erlösungsbedürftigkeit.

Ein Weg zum guten Leben

Was ist damit geleistet? Anders als in Konzeptionen, in denen Geschlechtsleib und Person nicht in ihrer spannungsvollen Einheit als Aufgabe gesehen werden, sondern auseinanderfallen, weist «Liebe und Verantwortung» wirklich einen Weg zum guten Leben, zum Gelingen der Begegnung der Geschlechter und damit zum Glücken menschlicher Sexualität. Konzeptionen der Trennung von Geschlechtsleib und Person, wie sie gegenwärtig in der deutschsprachigen katholischen Moraltheologie diskutiert werden, bleiben letztlich in einem leeren Formalismus der Freiheit stecken. Er lässt Sexualität zur Aushandlungssache verkommen und bleibt vor der konkreten Wucht des Begehrens und seiner realen kulturellen Gestalt, wie sie uns heute herausfordert, ratlos und stumm. Vom Grundansatz her ergibt sich schlussendlich als Ort solchen Gelingens die treue, auf Fruchtbarkeit angelegte und lebenslange Ehe von Mann und Frau. Umgekehrt bewahrt sein philosophisch durchdachter, aber biblisch inspirierter Personalismus Karol Wojtyla vor der Falle, das Wesen des Menschen starr und statisch zu denken (Essenzialismus) und so die Aufgegebenheit aller natürlich-geschöpflichen Vorgaben für die Gestaltung durch die Freiheit zu übersehen.

Im Licht dieser anthropologischen und ethischen Grundkonzeption legt Johannes Paul II. also die Bibel aus. Er lässt sich dabei ausgehend von Matthäus 19 zum «Anfang», den Jesus ja ins Gedenken ruft[2], zurückführen, um von dort aus die ganze Theologie in der Verfolgung des Wegs menschlicher Leiblichkeit von der Schöpfung zur Vollendung zu entwickeln. Ich meine, in der anthropologischen Krise der Gegenwart ist hier die biblische Alternative in grossartiger Weise und ökumenischer Relevanz entfaltet und ausformuliert.

Autor: Dr. theol. Martin Brüske

Quellen:

  • Johannes Paul II.: Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes (hrsg. und eingel. von Norbert und Renate Martin), Kisslegg, 2017 (Die Katechesen von 1979 – 1984).
  • Wojtyla, Karol (Johannes Paul II.): Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. Kleinhain, 2010 (Die ethisch-philosophische Grundlage der «Theologie des Leibes», urspr. 1960 / 1962).
  • West, Christopher: Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution nach Papst Johannes Paul II., Kisslegg, 2017 (Sehr gut lesbare, nicht zu umfangreiche Einführung).

[1] Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Heilbronn, 1776, 407.

[2] vgl. Mt 19,4.

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