Menschen mit Behinderung fordern mit der Inklusions-Initiative die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung. Was heisst das? Haben wir das nicht bereits? Und was bedeutet dies für die Kirchen?
In der Schweiz leben gemäss Bundesamt für Statistik 1,8 Millionen Menschen mit Behinderung. Sie wollen diejenigen Möglichkeiten haben, die für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich sind: Zur Schule gehen, eine Ausbildung machen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Familie gründen und in der eigenen Wohnung leben, wählen und abstimmen, Freiwilligenarbeit leisten, am Kirchenleben teilhaben. All das ist in der Schweiz für Menschen mit Behinderung nicht selbstverständlich. Zwar gibt es Gesetze, die Gleichstellung ermöglichen sollen. Sie gehen aber zu wenig weit, decken nicht alle Lebensbereiche ab oder werden in der Praxis nicht umgesetzt.
Kirchen: Dienstleistungen in öffentlich zugänglichen Bauten
Seit 2004 soll das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen verhindern, verringern oder beseitigen: Öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen – da gehören auch Kirchen dazu – müssen barrierefrei sein, aber nur solche, die nach 2004 neu gebaut oder umfassend erneuert wurden. Dasselbe gilt für Wohngebäude, aber erst ab neun Wohneinheiten, oder für Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen. Wer Dienstleistungen anbietet – auch kirchliche Angebote –, darf Menschen mit Behinderung nicht diskriminieren. Wer es dennoch tut, kann sich mit dem Bezahlen von 5000 Franken freikaufen. Das BehiG gilt für Arbeitsverhältnisse des Bundes. Für alle anderen Arbeitsverhältnisse gilt es nicht. Der öffentliche Verkehr sollte nach einer Umsetzungsfrist von 20 Jahren barrierefrei zugänglich sein. Noch sind es über 500 Bahnhöfe nicht.
Wie sieht es bei der sozialen Sicherheit aus? Wer eine behinderungsbedingte Erwerbseinbusse von mindestens 40 Prozent hat, hat Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (IV) und Ergänzungsleistung. Letztere ist eine Bedarfsleistung und wird bei Heirat häufig gekürzt, weil die Einkommen der Eheleute zusammengezählt werden. Wer keine anerkannte Diagnose oder weniger als 40 Prozent Erwerbseinbusse hat, erhält keine IV-Rente. Wer Unterstützung im Alltag oder bei der Arbeit braucht, bekommt diese fast nur in oder von Institutionen. Wollen Menschen mit Behinderung mit persönlicher Assistenz in der eigenen Wohnung leben, so ist das nur mit grossem, administrativem Aufwand möglich.
Von Fürsorge zu Grundrechten
In der Schweiz gilt seit 2014 die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie formuliert die allgemeinen anerkannten Grundrechte wie Recht auf Leben, Freiheit, Familie usw. für Menschen mit Behinderung. Anders als in anderen europäischen Ländern existiert in der Schweiz aber keine Strategie für die Umsetzung. Menschen mit Behinderung werden hier oft in Parallelstrukturen wie Sonderschulen, Heimen und geschützten Werkstätten versorgt und fehlen in der Gesellschaft.
Damit Menschen mit Behinderung nicht weiter marginalisiert werden und Inklusion gelingt, müssen wir die zweite Meile gehen. Die Inklusions-Initiative weist den Weg.

Simone Leuenberger ist Behindertenrechtlerin, Gymnasiallehrerin und EVP-Grossrätin im Kanton Bern. Sie ist im Elektrorollstuhl unterwegs.
www.simoneleuenberger.ch