Michel Kenmogne (1965) ist seit fünf Jahren Leiter (Executive Director) von «SIL International». Zuvor war er unter anderem Stellvertretender Direktor von «Wycliffe Global Alliance» für das frankophone Afrika. Er hat Französisch und Afrikanische Linguistik studiert und in Afrikanischer Linguistik doktoriert. Aufgewachsen ist er im Westen von Kamerun. Seine Muttersprache ist Ghomala’, die von rund 350’000 Menschen gesprochen wird. Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt in Deutschland, seit er SIL International leitet. Die Organisation setzt sich für ethnolinguistische Minderheiten ein, um Menschen in ihrer Herzenssprache Zugang zu Bildung und zur Bibel zu ermöglichen.
Der Leiter der gemeinnützigen christlichen Organisation «SIL International», Michel Kenmogne, spricht darüber, wie er ganzheitliche Mission definiert, inwiefern SIL International ganzheitlich arbeitet und wieso ihn seine Kindheit besonders motiviert, sich für Minderheitssprachen einzusetzen.
Michel Kenmogne, SIL International setzt sich für Minderheitssprachen ein. Was hat das mit ganzheitlicher Mission zu tun?
SIL International hat ein ganzheitliches Missionsverständnis und arbeitet dementsprechend. Bereits die Gründung von SIL begann mit dem Wunsch eines Missionars, die Menschen ganzheitlich zu unterstützen.
Inwiefern?
Als Cameron Townsend vor rund 100 Jahren als Missionar nach Guatemala reiste, sagte ihm ein Indigener Folgendes: «Wir werden von drei Systemen unterdrückt. Die Schamanen lehren uns, dass jeder Vulkan einem Geist gehört und Anbetung und Opfer verlangt. Die Priester wollen uns die spanische Religion aufdrücken und gebrauchen dazu eine Sprache, die wir nicht verstehen. Und die Saloon Besitzer kooperieren mit den Grundstücksbesitzern und lassen uns Indigene auf Kredit trinken. Mein Volk hat wenig Hoffnung.»
Wie reagierte Townsend auf diese Hoffnungslosigkeit?
Die Indigenen sehnten sich nach Freiheit auf der geistlichen, der sozial-ökonomischen und der sprachlichen Ebene. Townsend entschied sich, die Indigenen auf der Ebene der Sprache zu unterstützen, damit sie sich den Unterdrückersystemen entgegensetzen konnten. Er lernte und analysierte ihre Muttersprache, führte Leseklassen ein und übersetzte mit ihnen das Neue Testament.
Wie sieht die Arbeit von SIL International heute aus?
Sie übersetzt nicht nur die Bibel, sondern betreibt nach wie vor auch Sprachforschung und -entwicklung, Alphabetisierung und investiert in Schulbildung.
Schulbildung?
In vielen Ländern ist das Schulsystem noch immer so, dass die Schüler eine Schule besuchen, deren Sprache nicht ihre Muttersprache ist. Meistens beherrschen sie diese offizielle, «grosse» Sprache überhaupt noch nicht. So ist es nicht verwunderlich, dass viele dieser Schülerinnen und Schüler früher oder später aus diesem Schulsystem fallen. Somit haben sie nicht die gleichen Möglichkeiten wie diejenigen, deren Muttersprache eine Unterrichtssprache ist. SIL International will durch Bereitstellen von Unterrichtsmaterial in Minderheitssprachen allen Menschen – egal welcher Muttersprache – gleichwertige Chancen in ihrem Leben geben. Die Sprachenfrage ist eine Frage der Gerechtigkeit und Würde.
Das heisst?
Als Sprecher der Minderheitssprache Ghomala’ habe ich es selbst erlebt, was es heisst, mit sechs Jahren in die Schule zu gehen mit der Unterrichtssprache Französisch: Ich habe kein Wort verstanden. Ältere Schüler haben mir ausserhalb der Schule geholfen, so dass ich dann mit der Zeit immer mehr verstanden habe. In der Schule war es verboten, Ghomala’ zu sprechen. Dadurch habe ich mich wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt.
Sind Sie darum besonders motiviert, für SIL International zu arbeiten?
Ja, denn ich habe selbst erlebt und beobachtet, was mit einem Volk geschieht, dessen Sprache nicht anerkannt ist. Wir konnten das Leben nicht in seiner Fülle und Ganzheit leben, weil wir beispielsweise weder einen angemessenen Zugang zum Gesundheitssystem noch zur Bildung oder zu den sozio-ökonomischen Möglichkeiten hatten. Auch die Bibel gab es natürlich nicht in meiner Sprache. Meine Eltern hatten keinen Zugang zum Evangelium. Ich kenne diese Not. Ich habe dann erst an der Universität vom Evangelium gehört – dank Mitstudenten. Indem ich für SIL International arbeite, kann ich dazu beitragen, dass die Sprecher von Minderheitssprachen mehr und mehr in Würde leben können und gleichwertige Chancen erhalten.
Sie sind der erste Leiter von SIL International, der vom globalen Süden kommt. Haben Sie dadurch eine andere Perspektive als Ihre Vorgänger?
Das würde ich nicht sagen, da ich mich den gleichen Zielen verpflichtet fühle, die auch meine Vorgänger hatten. Zudem stehe ich auf ihren Schultern. Ich bringe jedoch zusätzlich eine Leidenschaft mit, weil ich selbst in gewisser Weise die Bevölkerung repräsentiere, der die Arbeit von SIL International zugutekommt.
Kennen Sie Leiter von anderen Missionsorganisationen, die auch aus dem globalen Süden kommen?
Ja, wir sind eine kleine Gruppe von sieben Leitern und tauschen uns regelmässig aus.
Wie definieren Sie ganzheitliche Mission?
Dazu brauche ich das Bild des Kreuzes. Ein Kreuz hat ja einen vertikalen und einen horizontalen Balken. Der vertikale Balken steht für die vertikale Dimension, das heisst für die Versöhnung des Menschen mit Gott und somit die Verbindung zu ihm. Die zweite Dimension ist die horizontale. Sie steht für die Verbindung von Mensch zu Mensch oder, anders gesagt, für die körperlichen, sozialen und psychologischen Bedürfnisse des Menschen. Da geht es um alle Themen, welche die Fülle des Lebens beeinträchtigen können. Jesus selbst hat uns gezeigt, dass beide Dimensionen nötig sind. Er hat menschliche Bedürfnisse erfüllt und gleichzeitig hat er mit seinen Reden sowie mit seinem Handeln auf Gottes Reich hingewiesen.
Sehen Sie einen unterschiedlichen Ansatz der ganzheitlichen Mission zwischen Kollegen vom globalen Süden und solchen aus dem globalen Norden?
Auf beiden Seiten gibt es starke Vertreter und auch Gegner der ganzheitlichen Mission. Ich sehe den Unterschied jedoch darin, wie Staaten organisiert sind – oder eben nicht. Im globalen Norden ist man es sich gewohnt, dass es funktionierende Systeme gibt, die den Menschen helfen. Das kann dazu führen, dass die Christen im globalen Norden die christliche Verantwortung auf die vertikale Dimension limitieren. Im globalen Süden gibt es solche Systeme nicht. Wenn Menschen krank werden oder obdachlos, werden sie nicht von einer staatlichen Infrastruktur aufgefangen. Wenn wir Christen in dieser Not nicht helfen, verpassen wir grosse Chancen. Es braucht beides: Die vertikale und die horizontale Dimension.
Das Gepräch führte Martina Seger-Bertschi.