Die Grenzen der Inklusion – und die Inklusion der Grenzen

Inklusion ist etwas Mitmenschliches und ein Gebot der Nächstenliebe. Sie ist motiviert aus der Liebe Gottes zu allen Menschen. Doch genau hier liegen zugleich die Grenzen der Inklusion: in der Radikalisierung unserer Liebe durch das jesuanische Gebot der Feindesliebe, die uns an unsere Grenzen bringt.

Menschen zu inkludieren, heisst, ihre Würde anzuerkennen. Oder kritisch formuliert, niemanden aufgrund eines äusseren Merkmals wie Geschlecht, Hautfarbe, Alter oder einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung zu beschämen. Jemanden zu exkludieren, bedeutet umgekehrt, eine Barriere zu errichten und Grenzen zu ziehen, um ihm oder ihr den Zugang zur Gemeinschaft zu verwehren und eine Eingliederung zu verhindern.

Es ist klar: Inklusion ist etwas Mitmenschliches und Exklusion etwas Unmenschliches. Natürlich gilt das immer nur im Fall der Unschuldsvermutung, also dann, wenn der Abgewiesene nichts Böses im Sinn hat. Einen Verbrecher sperrt man besser weg und einen Terroristen verfolgt man. Allerdings spielt im (christlichen) Strafvollzug der Gedanke der Inklusion dann doch eine Rolle! Denn das Ziel der Strafe ist die Sühne. Wer seine Reue bewiesen hat, wird wieder eingegliedert.

Ein sehr altes Gebot

Das Prinzip zu definieren, ist nicht schwer, es konsequent umzusetzen und durchzusetzen hingegen sehr. Es beginnt damit, wer für Inklusion verantwortlich ist. Eigentlich wäre es klar, dass es Sache der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft ist. Sie ist in der Pflicht, Anpassungsleistungen zu erbringen und beispielsweise für barrierefreie Zugänge zu sorgen. Behinderte Menschen haben das Recht, diese Anpassung einzufordern. Es steht ihnen zu. Doch manchmal hört man den Einwand, dass es zu aufwändig sei. Und es gibt zweifellos Fälle, in denen beispielsweise bauliche Massnahmen, die allen den Zugang erlauben würden, zu teuer wären. Auch hier gilt die Unschuldsvermutung. Dass es zu teuer wird, kann aber auch eine billige Ausrede sein. Unter dem Strich gilt: Nicht alles, was wünschbar ist, ist auch machbar.

Eine zweite Schwierigkeit begegnet uns im Gestus des Gesetzes. Inklusion ist ein Gebot der Nächstenliebe. Man könnte es apodiktisch formulieren: «Du sollst Deinen Nächsten nicht ausgrenzen!» Die Anklänge an die Zehn Gebote sind nicht zu überhören. Tatsächlich sind Inklusionsgebot und Exklusionsverbot sehr alt. Genauso alt ist jedoch auch die Geschichte ihrer Missachtung. So ist es aufschlussreich, dass schon in der Heiligen Schrift negativ formuliert wird. Dort heisst es: «Sagt nichts Böses über einen Tauben, und legt einem Blinden kein Hindernis in den Weg! Begegnet mir, eurem Gott, mit Ehrfurcht, denn ich bin der Herr.»[1] Es geht in dieser kritischen Wendung offensichtlich darum, dass die Starken die Schwäche des körperlich behinderten Menschen nicht ausnutzen. Aber ist das schon Liebe? Inklusion bedeutet doch mehr als Missbrauch zu vermeiden. Sie lässt sich doch nicht auf eine Pflicht reduzieren. Eine Inklusion, die das Gesetz zu Recht fordert, stösst an Grenzen.

Nicht aus Pflicht, sondern Liebe

Tatsächlich würden wir, wenn wir einander nur die Leviten lesen, etwas ganz Wesentliches verpassen – das Evangelium der grenzenlosen Liebe Gottes. Am eindrücklichsten wird die Grenzverschiebung beim Gebot der Feindesliebe. In der Bergpredigt strapaziert Jesus das Gebot der Liebe bis zur Schmerzgrenze. Wenn es heisst, wir sollen den Feind lieben, ist allerdings nicht von einer Pflicht die Rede. Es geht darum, im anderen auch dann den möglichen Bruder zu sehen, wenn er sich unmöglich verhält. Die Pointe ist, dass Gott uns so sieht. Nicht als hoffnungslose Fälle, die er behandeln muss, und auch nicht als Rebellen, die er brechen will, sondern als seine geliebten Kinder, Söhne und Töchter, Erben seines Reiches. Wer erkennt, wie gross die göttliche Liebe ist, hat es nicht nötig, andere klein zu machen.

Wenn eine Gemeinschaft sich öffnet, um Menschen einzulassen, die dazugehören wollen, macht sie es aus Liebe. Und diese Liebe sieht in diesen Menschen Geschwister und Freunde, die ihre Begabungen mitbringen. Denn aus der Freundschaft fliesst die Freude, die eine Gemeinschaft warm und wohnlich macht. Freundschaft ohne Inklusion grenzt aus, Inklusion ohne Freundschaft stösst schnell an Grenzen. Sie strapaziert die Nerven und nicht nur das Portemonnaie.

Liebe, die uns an Grenzen bringt

Wer jetzt denkt, dass Menschen mit Behinderung doch nicht mit Feinden verglichen werden sollen, denkt richtig. Das gilt für alle Mitmenschen, die mit einem Exklusionsrisiko leben. Wir sollen Kinder nicht mit Demenzkranken, ehemalige Sträflinge nicht mit Arbeitslosen, Migrantinnen nicht mit Gehbehinderten vergleichen. Vergleiche führen schnell zu Verwechslungen und falschen Annahmen.

Das ist exakt die Pointe der jesuanischen Feindesliebe! Sie lädt uns ein, auf die grenzenlose Liebe Gottes zu vertrauen, und bewirkt zugleich eine Radikalisierung unserer Liebe, die uns an unsere Grenzen bringt. Wir müssen innehalten und uns fragen, wo und wann das Prinzip der Inklusion an Grenzen stösst, weil wir an unsere Grenzen stossen: Weil wir verschiedene Bedürfnisse berücksichtigen müssen und es nie allen recht machen können. Weil wir auch auf eigene Bedürfnisse Rücksicht nehmen müssen und niemandem einen Gefallen tun, wenn wir uns mit Gott verwechseln. Ja, das kann eine billige Ausrede sein, die viel zu schnell kommt! Aber wenn wir uns einreden, dass wir in absolut offenen Gemeinschaften leben, sind wir nicht ganz dicht.

Es geht nicht ohne Kompromisse

Auf die Grenzen der Inklusion zu achten, ist darum auch ein Gebot der Liebe. Oder anders gesagt: Wir müssen als Gemeinschaft immer um Kompromisse ringen. Zum Beispiel, wenn wir aus Rücksicht auf die Lärmempfindlichen nicht überall Kinder dabeihaben. Oder wenn einer Gruppe ein Privileg gewährt wird, das einer anderen nicht zugestanden werden kann. Oder wenn bei einem interkulturellen Gottesdienst nicht alles auf Deutsch übersetzt wird. Oder wenn… Es gäbe tausende Beispiele. Unser Gemeinschaftsleben gleicht einem Hindernisparcours und die totale Inklusion ist eine totale Illusion! Je vielfältiger die Gemeinschaft ist, desto anspruchsvoller wird der Gemeindeaufbau. Darum sind weise Entscheidungen gefragt, welche die Gemeinde aufbauen, Freundschaften vertiefen und das Miteinander der Verschiedenen zum Segen werden lassen.

Ralph Kunz lehrt an der Universität Zürich Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorge, Gottesdienst und Gemeindeaufbau. Er wohnt mit seiner Familie in Winterthur-Veltheim. Das Thema «Inklusion» beschäftigt ihn auch in seiner Forschung.

Datum
Uhrzeit
Ort
Webseite
Preis
Anmeldefrist