Die meisten Menschen weltweit haben ein spirituelles Weltbild, in dem alles Unheil eine geistliche Ursache hat. Umgekehrt betrachten westliche Christen fast alles durch eine naturwissenschaftliche Brille, ohne sich der geistigen Dimensionen bewusst zu sein.[1] Das bedeutet für die ganzheitliche Mission ein heikler Spagat in beide Richtungen, bei dem Fehler unvermeidlich sind. Eine selbstkritische Betrachtung.
Erika arbeitet als Kinderkrankenschwester in Westafrika, versorgt Kranke und lehrt Gesundheit. Etliche Kleinkinder sterben an verunreinigtem Trinkwasser. Darum zeigt sie, wie man dieses durch einfache Sandfilter reinigen kann. Das Wasser wird glasklar und 99 Prozent der Krankheitskeime werden entfernt. Den Einheimischen ist das unheimlich, denn Wasser habe eine braune Farbe und schlammigen Geschmack, so erklären sie. Und überhaupt, Krankheiten würden durch böse Geister verursacht, nicht durch winzig kleine Mikroben. Der Kranke habe ein Tabu übertreten oder eine Person im Dorf einen Fluch ausgesprochen, der durch einen Gegenzauber ausgeglichen werden könne.
Eine Frage der Macht
Bei vielen Entwicklungsprojekten kommen Experten aus der Provinzhauptstadt oder dem Ausland. Sie haben exzellente Fachkenntnisse, Beziehungen und Ressourcen. Ein Anruf genügt und Geld sowie Material treffen ein. Ihr Wort hat so viel Kraft – im Gegensatz zur eigenen Ohnmacht. Einerseits machen deren Konzepte für Einheimische oft keinen Sinn. Andererseits verspricht man sich davon Vorteile. Also macht man mit – wider die innere Überzeugung. Zudem haben es die Fremden eilig. Sie wollen schnelle Ergebnisse sehen, brauchen Vorzeigbares für ihre Berichte und Geldgeber. Wer entscheidet, was das Problem ist und wie es angegangen wird? Wessen Selbstwert und Initiative wird hier gestärkt?
Partizipative Projektentwicklung ist gefragt, nicht die Entscheidung von fremden Experten, die alles besser wissen. Oder der Regierung, welche die Landessprache verbreiten und ihr Dorf in den Nationalstaat integrieren möchte. Oder westlicher Staaten, die ihre Entwicklungshilfe an europäische sozial-ethische Werte koppeln. Oder des Bischofs, dem die Ausstattung der Hauptkirche wichtiger ist als die Strassenkinder. Wer entscheidet letztlich, welche Bedürfnisse am dringendsten sind? Wer über die Umsetzung? Mit wessen Ressourcen? Wo schlägt Hilfe in Kolonialismus über?
Würde statt Almosen
Hilfe und Solidarität sind notwendig, besonders nach einer Naturkatastrophe, doch können sich die Begünstigten dadurch noch hilfloser fühlen als zuvor. Ihr Selbstwert und ihre Eigeninitiative werden weiter untergraben. Jesus hat ganz anders gehandelt, wie etwa die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg zeigt: Sie bekommen keine Almosen, sondern werden für ihre (kurze) Arbeit bezahlt und gehen mit Würde nach Hause.[2]
Mehrfachbelastung im Dienst
Gerade im ganzheitlichen Dienst, in Ausbildung, Gesundheitsdienst, sozialer Arbeit, gibt es ein Übermass an Not, an Gelegenheiten und Erwartungen. Überall fehlt es an Personal. Wie soll man da Grenzen setzen, zumal viele christliche Fachkräfte im Rahmen der einheimischen Kirche arbeiten, das heisst als kirchliche Mitarbeitende angesehen werden? Von ihnen werden berufliche Exzellenz und ein geistlicher Beitrag erwartet. Wie leicht saugt der berufliche Teil alle Kraft auf und es bleibt wenig Zeit für das Geistlich-Seelsorgerliche, für Mentoring und Beziehungen auf Augenhöhe. Das einleitende Beispiel zeigt, wie wesentlich das Spirituelle ist. Die grösste Herausforderung für Missionare und christliche Entwicklungshelfer ist ihr «Helferkomplex». Etliche setzen sich unrealistisch hohe Ziele, an denen sie scheitern müssen, manche laufen in ein Burn-out.
Verletzte Helfer
Mission setzt heile Personen voraus – sonst projizieren Helfer ihre eigenen Probleme in die Klienten, suchen sich selbst zu helfen und missbrauchen dafür ihr Gegenüber. Darum ist eine gute Vorbereitung unerlässlich, genauso wie das Reflektieren der eigenen Verletzungen, die Bearbeitung von Trauma und innere Heilung. Ebenso braucht es ein gutes Kultur- und Sprachstudium vor Ort, den Aufbau von langfristigen Beziehungen, Teamgemeinschaft, gegenseitige Korrektur und Rechenschaft. Nur im Team zusammen mit Einheimischen können wir die Wirkung unserer Grundhaltung, Worte und Verhaltensweisen abschätzen, erfahren wir Korrektur und Ergänzung. Wo diese Gemeinschaft und die Einbettung in lokale Kirchen fehlen, dient ein Projekt allzu leicht der eigenen Selbstbestätigung.
Ausnutzen von Not
Die gemeinsame Erklärung des Ökumenischen Rats der Kirchen, des Päpstlichen Rats für den Interreligiösen Dialog und der Weltweiten Evangelischen Allianz «Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt» bringt es auf den Punkt: «Das Ausnutzen von Armut und Not hat im christlichen Dienst keinen Platz.»[3] Dafür gilt es sensibel zu sein, besonders in der Katastrophenhilfe und Entwicklungszusammenarbeit, wenn die Bedeutung einer NGO betont wird, die im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und Spendenanteile punkten will. Wo geht es um PR, wo um die Not von Menschen? Wie viel Geld geht in Werbung – vielleicht kaschiert als Anwaltschaft? Solche Fragen müssen immer wieder gestellt, die eigene Arbeit kritisch hinterfragt werden.
Ehrlichkeit der Berichte
Ganzheitliche Projekte sind oft fremdfinanziert, leben von guter Kommunikation, überzeugenden Zahlen und ausdrucksstarken Fotos. Sind wir im harten Wettbewerb der NGO geneigt, das Positive herauszustellen, um die Zukunft des Projekts zu sichern, selbst wenn es nicht die «ganze Wahrheit» ist? Wie leicht werden Zahlen aufgerundet, Berichte aufgepeppt, Erfolge anderer vereinnahmt. Als Nachfolger von Jesus sind wir zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.
Ethik der Bekehrung
Die bereits genannte gemeinsame Erklärung formuliert: «Mission gehört zutiefst zum Wesen der Kirche. Darum ist es für jeden Christen und jede Christin unverzichtbar, Gottes Wort zu verkünden und seinen/ihren Glauben in der Welt zu bezeugen […] jedoch im Einklang mit den Prinzipien des Evangeliums, in uneingeschränktem Respekt vor und Liebe zu allen Menschen.» Darum ist es entschieden abzulehnen, «Menschen durch materielle Anreize und Belohnungen gewinnen zu wollen». Wie wahr! Doch wann wird Elend für Evangelisation ausgenutzt? Ist das Beten mit einem verzweifelten Menschen seelsorgerlicher Zuspruch oder übergriffig? Wann könnte sich ein Begünstigter zu Glaubensäusserungen hinreissen lassen, weil er sich dadurch materielle Vorteile verspricht? Soll einem Geflüchteten eine Taufe verweigert werden, wenn er noch im Asylverfahren, einer Notlage, ist – und bereits morgen nach Afghanistan abgeschoben werden könnte? Hier muss jeder Einzelfall neu bedacht werden.
Umgang mit Fehlern
Im Dienst passieren auch schwere Fehler: Fehleinschätzungen durch begrenzte Daten, unzulängliche Planung, sich schnell ändernde Situationen. Können wir diese offen zugeben und uns dafür entschuldigen, statt sie zu verheimlichen oder gar umzudeuten? Als Christen wissen wir uns von unserem himmlischen Vater gehalten. Wir können, ja sollen uns zu Versagen stellen, Gott und die Betroffenen um Vergebung bitten, Versöhnung erleben, neu anfangen – und die Folgen tragen. Ja, wir können zu unseren Grenzen stehen und Gottes Wort folgen: «das Rechte zu tun, anderen mit Barmherzigkeit begegnen und demütig vor Gott zu wandeln».[4]
Autor: Dr. Detlef Blöcher
[1] vgl. Eph 6,12.
[2] vgl. Mt 20,1-16.
[3] https://missionrespekt.de/fix/files/Christliches-Zeugnis-Original.pdf (9.4.2021).
[4] Mic 6,8.