Das Ringen um Frieden

Dieter Baumann (l.) und Lukas Amstutz im Gespräch über den manchmal schmalen Grat zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit.

Dieter Baumann und Lukas Amstutz vertreten je eine Form von Pazifismus. Im Gespräch über Krieg und Frieden und in ihrem Ringen auf der Suche nach dem Frieden gibt es nicht das typische Schwarz und Weiss von Gewalt oder Gewaltlosigkeit, sondern ganz viele Grautöne dazwischen.

Wie definieren Sie Ihre Position?
Lukas Amstutz: Ich vertrete einen «verantwortungsbewussten Pazifismus», der sich an dem von Jesus Christus verkündigten und gelebten Evangelium des Friedens orientiert. Ich grenze mich damit einerseits von einem strengen Gesinnungspazifismus ab, der unabhängig von konkreten Situationen absolut sagt: Ich mische mich nicht ein, weil ich mir mit Gewalt nicht die Hände schmutzig machen will. Und andererseits vom rationalen Pazifismus, der auf einer rein rationalen Ebene argumentiert, dass Gewaltfreiheit vernünftiger, weil erfolgversprechender ist.
Dieter Baumann: Ich vertrete eine Art «Rechtspazifismus». Der Begriff Pazifismus drückt meine Überzeugung aus, dass ein gerechter Friede das Ziel jedes zwischenstaatlichen und gesellschaftlichen Handelns sein muss und Gewaltverzicht die vorrangige Option sein soll. Da Menschen aber offensichtlich gewaltfähig sind und Gewalt anwenden, muss innerhalb der Gesellschaft und zwischen Staaten definiert sein, welche Form von rechtserhaltender Gewalt erlaubt ist und welche nicht. Dazu dient das Landes- und Völkerrecht. Zur Sicherstellung des staatlichen Gewaltmonopols braucht es jedoch Sanktionsinstrumente. Innerstaatlich ist das klassisch die Polizei und zwischenstaatlich sind es Armeen.

Wie sind Sie zu Ihrer Position gekommen?
LA:
Das hat mit meiner Biografie und kirchlichen Prägung zu tun. Ich wuchs in einer mennonitischen Kirche auf. Die Mennoniten gehören zu den drei Historischen Friedenskirchen. Ihre theologische Grundhaltung, ihr Christsein und Kirche sein haben sehr stark mit Gewaltfreiheit zu tun.
DB: Meine Position entstand während meiner theologischen und militärischen Ausbildung. Gewaltverzicht und Feindesliebe sind wichtige Merkmale meines «ethischen Kompasses». Mir wurde aber auch bewusst, dass es zur Sicherung des Friedens und legitimen Verteidigung einer Gesellschaft rechtsstaatliche Armeen und eine funktionierende Rechtsordnung benötigt.

Wie begründen Sie Ihre Position mit Ihrem Glauben?
LA:
Als Nachfolger von Jesus sehe ich mich herausgefordert, nicht nur Gott und den Nächsten zu lieben, sondern auch den Feind. Ich glaube, dass Jesus mit all dem, was er gesagt und gelebt hat, einen Weg gezeigt hat, wie man auf unheilvolle Konfliktspiralen anders reagieren kann. Meine Herausforderung ist – und damit ringe ich: Wie kann ich diese Gewaltfreiheit leben? Bei jedem Konflikt, dem ich im Alltag begegne, steht dies auf dem Prüfstand.
DB: Ich bin auf einer klassisch reformatorischen Linie geblieben. Die Reformatoren vertraten die Meinung, dass Christinnen und Christen als Bürgerinnen und Bürger auch Staatsverantwortung übernehmen sollen und sich dem Dilemma Gewaltverzicht oder Gewaltanwendung zum Schutz des Nächsten und des Gemeinwesens stellen müssen. Luther hielt dieses Spannungsfeld zum Beispiel in einer Antwort an Ritter Assa von Kram fest, der ihn gefragt hatte, ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können: «Lass dir gesagt sein, dass du Wollen und Müssen, Lust und Notwendigkeit, Freude am Krieg und Kampfeswille sehr weit auseinanderhalten musst. (…) Warte so lange, bis die Not und das Muss kommen, ohne die Lust und den Willen.»

Gibt es also so etwas wie einen «gerechten Krieg»?
DB:
Ich verstehe die Lehre vom gerechten Krieg als Versuch, mit dem Spannungsfeld von Gewaltverzicht / Feindesliebe und Gewaltanwendung zum Schutz des Nächsten und Gemeinwesens umzugehen. Die Urchristen konnten sagen, dass sie als Christenmenschen eher bereit waren, Gewalt auf sich zu nehmen, als anzuwenden. Aber mit ihrem Hereinwachsen in die Staatsverantwortung mussten sie in ihrer staatlichen Funktion auch Gewalt anwenden. Sie haben dabei Regeln entwickelt, wann es für eine «Obrigkeit» oder ein Land legitim ist, Krieg zu führen, und in welcher Absicht, welcher Art und Weise und zu welchem Zweck dieser geführt werden darf. Meiner Meinung nach gibt es aber keine gerechten Kriege, sondern nur eine legitime und rechtmässige Anwendung von militärischer Gewalt innerhalb einer Völkerrechtsordnung.
LA: Krieg ist in meinen Augen nie gerecht. Gewalt soll zwar immer – und so verstehe ich auch Dieter Baumann – nur Ultima Ratio sein, also das letzte Mittel, das man noch zur Verfügung hat. Ein Blick in die Geschichte und auch der aktuelle Krieg in der Ukraine zeigen aber auf traurige und erschütternde Art und Weise, wie schnell zu dieser Ultima Ratio gegriffen wird. Sehr schnell werden die festgelegten Kriterien für Gewaltanwendung nicht mehr beachtet, Gewalt eskaliert und die Kriegsmaschinerie führt ein Eigenleben.

Gibt es gewaltlose Möglichkeiten, die gerecht sind?
LA:
Das sollte man sich nicht erst beim Ausbruch eines Krieges anfangen zu überlegen, sondern früher die Frage stellen, wie ein Krieg verhindert werden kann. Beispiele von gewaltlosen Interventionen – auch gerade in der Ukraine – sind Leute, die sich ohne Waffen einem Panzer gegenüberstellen. Das ist vielleicht naiv, aber hat teilweise auch etwas gebracht. Ich habe nicht für jeden Konflikt eine Lösung bereit, aber es gibt eine ganze Reihe von Optionen, die man aber auch einüben muss. So hat die Schweizer Polizei ein beeindruckendes Arsenal an gewaltfreien Interventionsmöglichkeiten, die sie anwendet, um gewaltsame Ausschreitungen zu deeskalieren.

Was ist die Aufgabe der Kirche im Krieg?
LA:
Wir als Kirche sollen uns für Frieden und Versöhnung engagieren. Dazu müssen wir uns aber als glaubwürdige Gesprächspartner benehmen, und zwar für alle Parteien. Die Position der Gewaltfreiheit ist nicht Rückzug, sondern ein Versuch, die Gewalt mit gewaltfreien Mitteln zu unterbrechen und einen Raum der Begegnung zu schaffen, in dem Verhandlungen möglich sind.
DB: Für mich steht die Aufgabentrennung zwischen Militär und Kirche im Vordergrund. Der Grundsatz des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) heisst, Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Es ist nicht die Aufgabe der Kirche oder der Theologie, kriegerische Gewalt zu legitimieren. Die Kirche sollte jedoch akzeptieren, dass es – zum Beispiel zur Selbstverteidigung – staatliche, militärische Gewalt braucht und dass die eigenen Mitglieder Militärdienst leisten.

Kann mit Gewalt überhaupt Frieden erreicht werden?
DB:
Mit Gewalt kann nicht Frieden geschaffen werden, aber Gewalt wird benötigt, um einen völkerrechtswidrigen Angriff zu stoppen. Um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, bedarf es vielmehr diplomatischer, wirtschaftlicher, rechtlicher, zivilgesellschaftlicher und weiterer Mittel.

Was hat der Ausbruch des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine bei Ihnen ausgelöst?
DB:
Der Krieg ist ja nicht im Februar ausgebrochen, sondern begann bereits 2014 mit der Annexion der Krim und weiterer Gebiete. Aber die jüngsten Ereignisse waren ein Augenöffner für mich, dass Verträge und Abmachungen zwar wichtig sind, aber in der Realität sich nicht jede Partei daran hält. Deshalb ist es auch notwendig, im eigenen Land militärisch gut ausgerüstet, ausgebildet und vorbereitet zu sein.
LA: Der Krieg löst Erschrecken aus, dass so etwas überhaupt möglich ist. Und er macht Zusammenhänge bewusst, unter anderem wie der Westen zugunsten profitabler Geschäfte mit Putin weggeschaut und auf einen «faulen» Frieden vertraut hat. Auch über die Reaktion der Kirche bin ich erschrocken, die den Pazifismus sehr schnell über Bord wirft. Vor Kriegsbeginn waren pazifistische Positionen vor allem in kirchlichen Kreisen im Trend. In den letzten Monaten wurde mir mehrfach vorgeworfen, meine Position sei naiv und unterwandere unser Sicherheitssystem.

Was wären in diesem Krieg alternative Handlungsoptionen zu militärischer Gewalt?
LA:
Ich bin nicht in der Lage, der Ukraine zu sagen, was sie tun muss. Es gibt eine Palette von Optionen, von Flucht über Sanktionen bis zu Sabotageakten, die nicht Menschen zum Ziel haben, oder der Aufnahme von Deserteuren. Ich habe aber «die» Lösung nicht. Als Nicht-Konflikt-Partei sollten wir nicht Ratschläge geben, aber unsere privilegierte Position nutzen, um über Alternativen zur Gewalteskalation nachzudenken.
DB: Die Schweiz soll meiner Meinung nach weiterhin ihre guten Dienste anbieten und humanitäre Hilfe leisten.
LA: Wir dürfen uns nicht zu einem Freund-Feind-Denken hinziehen lassen. In Russland sind längst nicht alle Menschen für den Krieg bzw. stellen sich sogar aktiv dagegen. Wir müssen den Kontakt aufrechterhalten und Freundschaften weiter pflegen. Das heisst nicht, den Krieg schönzureden, aber Brücken zu Kräften zu bauen, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind und dafür einen hohen Preis zahlen.

Was raten Sie Christen, die mit der Frage ringen, wie sie sich generell zu Gewaltanwendung bzw. Gewaltverzicht positionieren sollen?
LA:
Die Realität zeigt, dass Krieg nach wie vor eine Option ist. Darum muss auch aus einer pazifistischen Position überlegt werden, was ich tue, wenn mir Gewalt begegnet. Wie stehe ich zu Gewalt angesichts von Jesus, der sagt: «Liebe deinen Feind»? Für ganz wichtig halte ich auch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, statt in seiner «Bubble» zu bleiben.
DB: Diesen letzten Punkt kann ich nur unterstützen. Als ich Theologie studierte, war ich als junger Offizier ein Exot. Da prallten am Anfang die Meinungen und Klischees aufeinander, doch mit der Zeit klärte sich vieles. Wichtig finde ich auch das Nachforschen in Texten der Bibel und der Kirchengeschichte, wo man beide Richtungen findet. Diese Texte müssen jedoch immer im historischen Kontext gelesen werden. So kann man versuchen zu verstehen, weshalb sich wer für welchen Weg entschieden hat, und seine eigene Position schärfen.

Autorin: Pascale Leuch

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