Das Loch im Dach oder Wege zu Jesus

«Ich will heute in die Kirche, es ist Sonntag!» So hat es Babs im Heim für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen immer wieder gesagt. Damals war ich überrascht, wie viel es einigen unserer Bewohnerinnen und Bewohnern bedeutete, mit anderen Menschen einen Gottesdienst ausserhalb ihres Hauses zu feiern.

«Warum möchtest du denn in den Gottesdienst», fragte ich Babs. «Das ist so schön, die Lieder, das Beten, einfach mit anderen bei Jesus zu sein.» So wie Babs haben auch noch Frank, Sam und Linda gesprochen. Und weil diese vier jungen Erwachsenen nicht lockerliessen, ging ich mit ihnen in den Gottesdienst.

Anders als in der biblischen Geschichte in Markus 2,1-12 (vgl. Abbildung) war das Gotteshaus nicht überfüllt und es gab reichlich Platz für uns. Als die Gemeinde in das erste Lied einstimmte, waren Babs und Frank so begeistert, dass sie aufstanden und tanzten. Linda hingegen blieb ruhig sitzen, lauschte und klatschte dann laut, als das Lied fertig war. Sam machte die Augen zu und faltete die Hände. Für mich war es ein langer Gottesdienst, denn ich war mir nicht sicher, ob wir wirklich willkommen waren.

Wie der Gelähmte aus Markus 2

Auch wenn wir heute in einer anderen Zeit und in anderen Strukturen leben, bringen immer wieder Menschen zum Ausdruck: «Ich fühle mich wie dieser Gelähmte, ich komme nicht an Jesus heran.» Vielleicht weil sie «anders» sind, weil sie eine Behinderung haben, weil sie die Sprache und die Tradition nicht verstehen. Sie nehmen wahr, dass es Begeisterte gibt, die Jesus nachfolgen, aber selbst fühlen sie sich unsicher, wie sie dazugehören oder wie sie Jesus finden können.

In Markus 2 war nicht nur im Haus, sondern auch vor der Türe kein Durchkommen. Was bedeutet es, wenn ein Mensch, der Hilfe von anderen braucht, die Nähe Jesu sucht? Die Geschichte gibt ein ermutigendes Beispiel und sagt: Allein geht es nicht, aber in Gemeinschaft und mit einem klaren Ziel vor Augen verändert sich etwas. Die vier Begleitpersonen werden oft als Freunde bezeichnet, der griechische Text lässt es offen. Diese vier Personen verbindet ihr Engagement für den Kranken und dessen grosser Wunsch, bei Jesus zu sein. Eine starke Person hätte es nicht geschafft, den Kranken allein einen weiten Weg zu tragen oder gar auf das Dach zu steigen und es teilweise abzutragen. Die fünf Menschen hingegen sind in ihrer unterschiedlichen Art gemeinsam ungewöhnliche Wege gegangen.

Doch die Erzählung endet nicht mit dem, was in menschlicher Macht oder in unserer kleinen Kraft steht. Sie geht weiter. Es passiert etwas zwischen dem Gelähmten und Jesus. Denn Jesus Christus selbst vergibt die Sünden und heilt. Aus dem, der getragen wurde, wird durch Jesu Kraft und Eingreifen ein Mensch, der selbst zupackt und tragen kann.

Nicht Behinderter, sondern Mutmacher

Mir kommt Leo in den Sinn. Er sitzt mit seinem Rollstuhl Sonntag für Sonntag mit einer anderen Rollstuhlfahrerin im Gottesdienst. Leo erzählt von vielen Wundern in seinem Leben und wie er das Leben meistert. Dabei nennt er seine Begleiter, Assistenzpersonen und Freunde. Doch was er am meisten betont, ist dieses Vertrauen zu Jesus, das ihn trägt und ihm ermöglicht, sich selbst nicht als minderwertig oder nur «behindert» anzusehen. Jesus lehrt ihn, dass er wertvoll und geliebt ist, dass er als Rollstuhlfahrer anderen Mut machen kann und so manches «Loch in Dächer» gräbt, damit Menschen Jesu Nähe finden und ermutigt ihre Wege weitergehen.

Dr. Martina Holder-Franz ist Pfarrerin in Riehen BS, Dozentin für Palliative Care, Autorin und Cicely Saunders-Spezialistin. Sie ist verheiratet mit Pfr. Dr. Dan Holder, die beiden haben vier Kinder.

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