Wie kann man Menschen mit einer geistigen Behinderung mit dem Evangelium erreichen? Eine ganzheitliche Kommunikation ist dabei hilfreich und kann neue Perspektiven eröffnen. Was das konkret heisst, beschreibt Astrid Weinert-Wurster aus ihrer langjährigen Erfahrung als Pfarrerin für Menschen mit einer Behinderung.
Als ich Pfarrerin für Menschen mit einer Behinderung wurde, meinte eine Bekannte: «Verstehen die das?» Aber: Wer sind denn «die»? Hinter der Frage steckt eine ablehnende Wertung, wie sie Menschen mit Behinderung immer noch oft erleben müssen. Gegen jede Ausgrenzung sehe ich Menschen mit Behinderung mit dem Theologen Ulrich Bach als Schöpfungsvarianten.[1] Alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, sind gesegnete Ebenbilder Gottes, von Gott angenommen, geliebt und berufen, so wie sie sind.
Und damit sind wir beim «das», dem Evangelium. In unserer auf Leistung fixierten Gesellschaft wird eines oft vergessen: Alle sind wir verletzlich, auf Gnade angewiesen. Das Evangelium ist die Einladung Gottes, auf seine Gnade zu vertrauen. Ich vermittle die gute Nachricht von der grenzenlosen Liebe Gottes als Zuspruch; oft mit den Worten: «Der liabi Gott het di gära.»
Mit Kopf, Herz und Hand
In der Kommunikation mit Menschen mit einer geistigen Behinderung leistet das Prinzip Pestalozzis «mit Kopf, Herz und Hand» gute Dienste. Der Kopf wird gefordert. In einfachen Worten kommt das Thema aufs Wesentliche beschränkt zur Sprache. Gut eignet sich für Erwachsenenbildung, Unterricht oder Gottesdienst die «Leichte Sprache».[2] Unterstützend können eigens für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelte Gebärden oder Bilder und Symbole verwendet werden.[3] Der kopflastige Teil muss kurz sein. Denn auch das Herz fordert sein Recht. Musik, Rollenspiele oder Rituale vertiefen das Gesagte. Genauso soll die Hand miteinbezogen werden mit Bewegungen, Handlungen, Basteln.
Das gleiche Prinzip ist, auf die Situation angepasst, ebenfalls in der Seelsorge anwendbar. Die ganzheitliche Kommunikation schliesst auch im Gottesdienst Zwischenbemerkungen, Fragen, Hilfestellungen und einen gegenseitigen Austausch mit ein.
Menschen mit einer Behinderung interpretieren biblische Texte gerne spontan und manchmal auf ungewohnte Weise. Das kann erhellend sein. Im Sinne einer Kommunikation auf gleicher Ebene steht es Menschen mit Behinderung zu, Subjekte der Theologie zu sein und nicht nur Objekte. Wenn Raum dafür angeboten wird, haben sie viel zu sagen über eigene Erfahrungen, Erkenntnisse, über ein tiefes Gottvertrauen und eine berührende Spiritualität. Denn: «Behinderti het der Herrgott am allerliebsta. Dia kömmand z‘erst in da Himmel!», wie mir eine Seniorin mit Behinderung versicherte.
Wir Menschen mit und ohne Behinderung sind als Teile unserer Gemeinden Glieder am Leib Christi.[4] Werden Menschen mit Behinderung aktiv in das Gemeindeleben mit einbezogen, können alle nur profitieren: Unsere Kirchen zeigen ein barrierefreies, vielfältiges, buntes Gesicht.
[1] vgl. Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchener Verlag, 2006.
[2] vgl. z.B. Pro Infirmis https://www.buero-leichte-sprache.ch/leichte-sprache.html (15.10.2024).
[3] vgl. z.B. das «Unser Vater»-Gebet in Gebärden für Menschen mit einer geistigen Behinderung: https://www.youtube.com/watch?v=GxPCIcmCbdY (15.10.2024).
[4] vgl. 1 Kor 12,12 ff.

Pfarrerin Astrid Weinert-Wurster
lebt mit ihrer Familie in Chur. Sie ist seit bald 20 Jahren Pfarrerin für Menschen mit einer geistigen Behinderung im Kanton Graubünden und mit weiteren 50 Stellenprozenten Gemeindepfarrerin in Scharans/Fürstenau.